Der Stonewall Aufstand 1969 war ein Aufbegehren gegen Gewalt, aber kein singuläres Ereignis
Obwohl der Stonewall Aufstand ein wichtiger Bezugspunkt einer selbstbewusst auftretenden LGBTIQA+ Bewegung ist, sollte eine Geschichtsschreibung der Bewegung die Riots stärker im Zusammenhang der gesamtgesellschaftlich geführten Kämpfe betrachten und nicht als ein singuläres Ereignis hochstilisieren. (1) Und so queere Widerstände als andauernde Auseinandersetzungen zu initiieren, die solidarische Praxen und unvorhersehbare Effekte hervorbringen.
In den frühen Morgenstunden des 28. Juni 1969 hatten BIPOC Sexarbeitende, Transpersonen und Drag Queens, Butches und Femmes (2), sowie andere Menschen, die wegen ihres normabweichenden Verhaltens verarmt und obdachlos waren, genug: Bei einer Razzia im Stonewall Inn in der Christopher Street in New York setzen sie sich zur Wehr und lieferten sich mehrtägige, militante Straßenschlachten mit der Polizei. Die Stonewall Riots waren ein Aufbegehren gegen massive staatliche Repression, die ausgrenzenden Normen und die damit einhergehende Gewalt der Mehrheitsgesellschaft.
Barkulturen
In den 1950er und 1960er Jahren blieb Menschen in den USA, deren Lebens- und Ausdrucksweisen jenseits heteronormativer, mittelklassiger, weißer und christlich geprägter Moral- und Verhaltensvorstellungen lagen, nicht nur der Zugang zu ihren Grundrechten und einer einfachen gesellschaftlichen Teilhabe verwehrt, sondern oft auch der schlichte Zutritt zu Einrichtungen des täglichen Lebens. Bars bildeten eine Ausnahme. Siewaren ein wichtiger Ort des Zusammenkommens, Austauschens, Ausprobierens, Feierns und sich-Organisierens– in mehrfacher Hinsicht. Bars boten eine willkommene Auszeit vom alltäglichen Überlebensstress. Das Stonewall Inn war besonders bei mehrfach marginalisierten Menschen beliebt, die sich das Ausgehen an anderen Orten nicht leisten konnten.
Das Klima in der US-amerikanischen Gesellschaft der 1950er Jahren war vom Anti-Kommunismus McCarthy’s geprägt, auf dessen Verfolgungslisten auch Homosexuelle standen. 1952 listete die American Psychiatric Association Homosexualität in ihrem Diagnostic and Statistical Manual (DSM) als psychische Störung, als die sie dort bis 1973 blieb. Der liberale Nachkriegskonsens der USA basierte auf der systematischen Ausgrenzung großer Teile der Bevölkerung, besonders der Schwarzen Bevölkerung. Denn der Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg, der zur Zunahme sozialstaatlicher Programme und wachsender politischer Teilhabe hätte führen sollen, tat genau das nicht.Als Konsequenz erstarkte Mitte der 1950er die Civil-Rights-Bewegung für die Rechte von Afroamerikaner*innen, in den 1960er Jahren entstand eine Gegenkultur-Bewegung und ab 1964 die Anti-Vietnam-Kriegsbewegung. Alle diese Bewegungen traten immer öfter, entschlossener und kompromissloser auf, offenbarten sehr deutlich, wo die gesellschaftlichen Konfliktlinien verliefen und nahmen unmittelbar Bezug aufeinander. Die Kämpfe von LGBTIQA+ müssen als darin eingebettet und vor diesen Hintergründen verstanden werden.
1950 gründete sich die Mattachine Society, deren Ziele es waren, Homosexuelle zu vernetzen, zu informieren und »sexual deviants« bei juristischen Problemen zur Seite zu stehen. Aber ab 1953 setzte die Organisation mehr auf Assimilation und sogenannte Achtbarkeit von Homosexuellen. Sie glaubte, Einstellungen zur Homosexualität eher zu verändern, indem das »Normale« an Schwulen und Lesben betont würde, die sich gar nicht so sehr von Heteros unterscheiden würden. In San Francisco gründeten Lesben wenig später die Daughters of Bilitis (DOB), die ursprünglich zusammen kamen, um an einem sicheren Ort zu tanzen, aber bald ähnliche Ziele wie die Mattachine Society verfolgten.
Diesen assimilierenden und normalisierenden Ansatz begrüßten aber nicht alle. Als Antwort auf Polizeirepressionen gab es bereits 1959 im Cooper Do-nuts Café in Los Angeles einen Aufstand von Homos und Transpersonen. Dem folgte 1966 ein größerer Aufstand von Drag Queens, Sexarbeitenden und Transpersonen, die in Compton’s Cafeteria in San Francisco saßen, als die Polizei »Männer festnehmen wollte, die sich als Frauen« anzogen. Die Sozialwissenschaftlerin und Aktivistin Susan Stryker charakterisiert den Aufstand als »einen Akt von Anti-Transgender-Diskriminierung, eher als einen Akt von Diskriminierung wegen sexueller Orientierung«, der von vielen als Beginn eines Transgender-Aktivismus in San Francisco gesehen wird. Diese Riots von LGBTIQA+ reihen sich in eine Serie von Riots von Schwarzen Communities in unterschiedlichen Städten zwischen 1964 bis 1970 ein. (3)
Razzien in Bars mit LGBTIQA+waren in diesen Jahren an der Tagesordnung. Bei dem Aufstand im Stonewall Inn gelang es der Polizeinicht, die Oberhand in der Auseinandersetzung zu gewinnen. Zu den Aktivist*innen der Stunden gehörten unter anderem Stormé De Larverie, Marsha P. Johnson, Thomas Lanigan-Schmidt, Sylvia Rivera und Craig Rodwell. Die Parolen der aufständischen Nächte und Tage waren »Drag Power«, »They invaded our rights«, »Support gay power«, und »Legalize gay bars«. Das Stonewall Inn kommunizierte seinen Widerstand beständig mit der Leuchtschrift »We are open«.
»You bet your sweet ass«
Wenige Monate nach den Stonewall Riots gründete sich die Gay Liberation Front (GLF) und stellte in einem ihrer ersten Flyer die rhetorische Frage: »Do You Think Homosexuals Are Revolting? You Bet Your Sweet Ass We Are!« Eine ihrer ersten Aktionen war eine Demo, um den Moment des Stonewall Aufstands weiter am Leben zu halten und ein Ende der Homosexuellenverfolgung zu fordern. Ihr politisches Programm war anti-rassistisch, anti-kapitalistisch, mit klarem Bezug auf die Befreiungsbewegungen des globalen Südens und einer Ablehnung »nuklearer« Familienstrukturen und traditioneller Geschlechterrollen. Sie arbeiteten mit den Black Panthers zusammen und wandten sich gegen das Women’s House of Detention, ein besonderer Frauenknast in New York. Kurze Zeit später gründeten einige Mitglieder die lesbische Aktivistinnen-Gruppe Lavender Menace, andere wie Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera initiierten die Street Transvestite Action Revolutionaries (STAR), die Knastarbeit machten und Unterkünfte für obdachlose Jugendliche, insbesondere »street queens« organisierten. Andere Mitglieder gründeten die Gay Activist Alliance (GAA), die explizit »innerhalb« des politischen Systems arbeiten wollte. 1970 gab es in New York, Los Angeles und Chicago die ersten Gay Pride Demonstrationen. Im darauffolgenden Jahr fanden sie in verschiedenen US-amerikanischen Städten und ebenso in London, Paris, West-Berlin und Stockholm statt. Und dann kamen die Kommerzialisierungen der CSDs und andere, wie so oft vorhersehbare, Vereinnahmungen dazu.
In der politischen Praxis bezogen sich Aktivist*innen sehr stark auf die Erfahrungen der Civil-Rights-Bewegung und deren Taktiken von Boykotten, Sit-Ins, Nights-Out und anderen Aktionsformen, die in den öffentlichen Raum hineinagierten und dort existierende Grenzziehungen in Frage stellten. (4) Sie hinterfragten, was als öffentlich und privat gilt, wer Zutritt zu was hat, wer darin Gewalt ausgesetzt ist. Wenig später inspirierteauch die politische Praxis der Black Panther mit ihren Nachbarschaftspatrouillen die Pink Panther in ihrem »Take back the night«-Konzept.
Die Entstehung von Act Up
In den USA gründete sich auf dem Höhepunkt der AIDS-Krise 1987 ActUp (AIDS Coalition to Unleash Power). Act Up brachte das Thema in eine breitere Öffentlichkeit, kämpfte gegen die Pharmaindustrie und für den Zugang zu Medikamenten für Erkrankte, gegen deren Stigmatisierung und für eine Gesundheitspolitik, die sich überhaupt der Pandemie widmete. Ihre Aktionsformen waren »Die-Ins«, politische Beerdigungen, wie die »Ashes Action«, bei der 1992 die Asche von AIDS-Toten im Vorgarten des Weißen Hauses verstreut wurde (»150.000 Tote und wo war George?«), Blockaden wie die der Food and Drug Administration (FDA), Demonstrationen wie die erste in der Wall Streetoder Störungen von AIDS-Konferenzen, beispielsweise 1989 in Montreal. 1992 stürmten sie das Fernsehstudio von CBS News und protestierten gegen den Golfkrieg mit der Parole »AIDS is news. Fight AIDS, not Arabs«. Einige ihrer bekanntesten Parolen sind: »United in Anger, Never be silent again – ACT UP; Silence=Death.«
1990 gründeten Aktivist*innen von ActUp die Gruppe Queer Nation in New York, die sich besonders der wachsenden Gewalt gegen LGBTIQA+ Personen und der Unsichtbarmachung von Queers in den Künsten und Medienwidmete und öffentliche Räume für Marginalisierte sicherer machen wollte. Ihre Taktiken waren kurzfristige, sichtbare und medienorientierte Aktionen, die ohne Entschuldigungen und Begründungen in kulturelle Räume hineinintervenierten. »We’re Here. We’re Queer. Get Used to It.« Dazu gehörten z.B. Kiss-Ins in Einkaufszentren, als postmodernes Anti-Konsum und Anti-Heten-Spektakel oder Queer Nights Out. Queers wollten und sollten nicht mehr nur in den ihnen zugeteilten oder selbsteroberten Bars abhängen. Stattdessen thematisierten sie, dass die meisten öffentlichen Orte nicht nur heteronormativ strukturiert sind, sondern wiederum auch Heteronormativität produzieren, parodierten heterosexuelles Verhalten und hinterfragten die Selbstverständlichkeit heterosexueller Paarungsrituale in öffentlichen Räumen.Dabei ging es immer auch darum, die Trennung von privat und öffentlich zu hinterfragen. Aktivist*innen von Queer Nation gründete 1992 Transgender Nation als erste explizite »queer transgender social change group« in den USA. Im gleichen Jahr, in dem sich die Lesbian Avengers gründeten.
»Es ist komplexer«
Einige Geschichtsschreibungen sehen die Stonewall Riots als Beginn der radikalen LGBTIQA+ Bewegung, andere messen diesen Tagen weniger Bedeutung zu, wie die die Mitgründerin der Lesbian Herstory Archives Joan Nestle: »Ich sehe es sicherlich nicht so, dass schwul-lesbische Geschichte mit Stonewall beginnt… Und ganz sicher beginnt der Widerstand nicht mit Stonewall. Was ich schon sehe, ist ein historisches Aufeinandertreffen von Kräften, und dass sich in den sechziger Jahren wandelte, wie die Menschen die Dinge in dieser Gesellschaft ausgehalten haben und was sie sich weigerten zu ertragen… Sicherlich ist in dieser Nacht 1969 etwas Besonderes passiert, und wir haben es in unserem Bedürfnis, einen – wie ich es nenne – Ursprungspunkt zu haben, zu etwas noch Außergewöhnlicherem gemacht… Es ist komplexer, als zu sagen, dass alles mit Stonewall begann.«
Die Auseinandersetzungen um Race, Klasse, Ability, Gender, Sexualität und Begehren sowie politische Positionierungen und Auseinandersetzungen um legitime Aktionsformen wurden hart geführt. Sie mündeten in Spaltungen, ein erstes Weißwaschen, Homonormieren und Gaystreamen der Hauptakteur*innen. Aus einem mehrheitlich von marginalisierten BIPOC Sexarbeitenden, Drag Queens und trans-geführten Aufstand wurde in der Geschichte plötzlich einer mit schwulen, weißen Cis-Männern als Hauptakteuren.
Was bedeutet das für eine politische Praxis? »Queere Praxis sollte sein, das Problem nicht auf Seiten der Minorisierten anzusetzen, sondern die Dominanzgesellschaft zum Problem zu erklären.« (5)
Gegen Homonationalismus und Single-Issue-Denken
Besonders heute gilt es, sich nicht in die politische Praxis des Homonationalismus eingemeinden zu lassen. Homonationalismus geht auf eine Analyse von Jasbir K. Puar zurück, die damit beschreibt, wie bestimmte gesellschaftliche Kräfte sich mit Forderungen von LGBTIs identifizieren, um zum Beispiel ihren Rassismus zu rechtfertigen, insbesondere anti-muslimischen Rassismus. Die westliche Gesellschaft wird so als sicher, willkommen-heißend, offen gegenüber sexueller Devianz und integrativ für LGBTIs dargestellt, während Zugezogene diese Errungenschaften gefährden würden. Deswegen können auch Personen wie Alice Weidel ohne Probleme in der AfD sein. Das ignoriert völlig die Realität von LGBTIQA+s unterschiedlicher Herkünfte, blendet die weiterbestehenden Ausgrenzungen von nicht-normgerechtem Verhalten aus und soll zu Spaltungen in der Szene führen.
Ähnlich wie bei den Aufstandsformen anderer Ausgegrenzter, stellen sich viele Fragen: Braucht eine Bewegung immer einen »single event«? Besteht die Herausforderung nicht eher darin, einen andauernden Prozess von Auseinandersetzungen zu initiieren, der auch unvorhergesehene und widersprüchliche Effekte hervorbringt? (6) Kann nicht die Vielfalt der damaligen Widerstandsformen und Kämpfe in ihrer Gesamtheit als ausschlaggebend anerkannt werden? Und was bedeutet das für solidarische Praxen heute? Wird Widerstand überhaupt wahrgenommen, wenn er nicht in herkömmliche Raster dessen passt, wer darin aktiv wird, etablierte Binaritäten hinterfragt, und so bereits andere Erzählungen schreibt? Was bedeutet das für Lesarten von Widerstandsformen, die eine queere Disapora mitbringt? Wie gehen wir mit Differenzen in unseren unterschiedlichen Allianzen um und erkennen an, dass bestimme Konfliktlinien unvereinbar bleiben? Wie kann es gelingen, normative Narrative von Aufstand, Radikalität und Progressivität zu hinterfragen und so eher die Gleichzeitigkeit einer Komplizenschaft in gegenwärtigen Machtstrukturen und ihr permanentes Unterlaufen zu leben?
Audre Lorde sagte in ihrer Analyse der Kämpfe der 1960er dazu das weiseste »There is no such thing as a single-issue struggle because we do not live single-issue lives.« Das könnten wir uns auch heute auf unsere Transparente und in unsere politischen Praxen (ein)schreiben.
Anmerkungen:
1) LGBTIQA+ steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Transexual, Transgender, Intersex, Queer and Questioning, Asexuals and Allies Plus Others.
2) BIPOC steht für Black Indigenous and People of Colour.
3) 1964: Harlem; 1965: Selma to Montgomery Märsche, Watts Riots; 1967: Long Hot Summer of 1967, bei dem es in mehr als 100 Städten, darunter Detroit, Newark, Cincinnati, Cleveland, Washington, D.C, zu Riots kam; 1968: Nach der Ermordung Martin Luther Kings gab es Riots vonSchwarzen Communities in mehr als 110 Städten.
4) Dazu gehören der Montgomery Bus Boykott (1955-56), Sit-Ins wie in Greensboro und Nashville 1960 und Demonstrationen wie 1963 die Birmingham Children’s Crusade oder Selma to Montgomery 1965.
5) Siehe den Artikel in ak Nr. 498 von writingworstfearqueens mit dem Titel »Was hat dich bloß so ruiniert? Vom Aufstieg und Fall der Christopher Street Days«.
6) Siehe dazu María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan und Antke Engel: Hegemony and Heteronormativity. Revisiting ›The Political‹ in Queer Politics. London 2011.
Zitat 1: Das Stonewall Inn kommunizierte seinen Widerstand beständig mit der Leuchtschrift »We are open«.
Zitat 2: Aus einem mehrheitlich von BIPOC Sexarbeitenden, Drag Queens und trans-geführten Aufstand wurde in der Geschichte plötzlich einer mit schwulen, weißenCis-Männern als Hauptakteuren.
Stonewall was a riot analyse und kritik 650 vom 18.6.2019