Wenn Kandahar zu San Francisco wird

Mit erstaunlichen Begründungen verweigern Hamburger Richter Homosexuellen den Schutz vor Abschiebung nach Afghanistan

Ashwani K. ist nicht leicht zu erschüttern. Aber als er die Begründung hörte, weshalb seine Abschiebung nach Afghanistan nicht zu beanstanden sei, war er sprachlos. Ashwani K. (Name geändert) ist Afghane, Hindu und schwul. Seit zwei Jahren lebt er mit seinem Partner in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft. Vor zehn Jahren floh er nach Hamburg. Jetzt droht ihm die Abschiebung in das bürgerkriegsgeplagte Land. Abschiebungen Homosexueller nach Afghanistan seien nicht zu beanstanden, attestierten Richter der Hansestadt bereits im vergangenen November. Dem Antragssteller bliebe es schließlich selbst überlassen, wie weit er seine Homosexualität bekannt gebe. Zudem sei „die Stadt Kandahar wie San Francisco bekannt für das dort weit verbreitete homosexuelle Verhalten“.

In der abenteuerlich wie absurd anmutenden Begründung des Hamburger Verwaltungsgerichts heißt es weiter, in Afghanistan lebe nach dem Machtverlust der Taliban eine homosexuelle Szene wieder auf und werde toleriert. Als Beleg zitiert das Gericht aus einem Bericht des britischen Institute for War and Peace Reporting (IWPR). Dort steht, dass „die von den Taliban verbotene Praxis des Geschlechtsverkehrs zwischen Männern und minderjährigen Jungen wieder auflebe und dass es bei ortsansässigen Männern, insbesondere Militärkommandanten in den Provinzen Pawan und Kakisa durchaus üblich sei, Jungen zu Feierlichkeiten mitzunehmen und sie zum Tanzen und manchmal zum Sex zu veranlassen.“ Allerdings betitelte das IWPR seinen Bericht nicht mit „Tradition der Homosexualität“ sondern mit „Child Sex Abuse Alarm“ und warnte vor zunehmender sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige in Afghanistan.

Unheimliche Behauptungen

Für Mostafa Danesch, der seit mehr als 14 Jahren als Gutachter für deutsche, österreichische und niederländische Verwaltungsgerichte arbeitet und seit 1978 regelmäßig Afghanistan bereist, sind die Begründungen der Hamburger Richter „unheimliche Behauptungen“. Ganz offensichtlich werde in der Rechtsprechung Homosexualität mit systematischer Vergewaltigung und sexualisierter Gewalt gegenüber Minderjährigen verwechselt.

Eine Einschätzung, die der deutsche Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen, Norbert Trosien, teilt. In einem Schreiben an die Hamburger Ausländerbehörde vom Mai berichtet er über Entführungen und Vergewaltigungen junger Männer. Zudem bestehe für homosexuelle Männer in Afghanistan die erhebliche Gefahr politischer Verfolgung. Bei homosexuellen Handlungen werde in Afghanistan weiterhin die Scharia angewandt, berichtet Gutachter Danesch. Und das bedeutet in diesen Fällen, lebendig begraben zu werden.

Ashwani K. ist bereits der dritte Fall in der Hansestadt, in dem mit gleichlautender Begründung schwulen afghanischen Männern Abschiebungsschutz verweigert wurde. Die Hamburger Asylrechtsanwältin Sigrid Töpfer, deren homosexueller Mandant ebenfalls von Abschiebung bedroht ist, kritisiert: „Von einem freien, offenen und einverständlichen Kontakt zwischen erwachsenen Männern ist in keiner der zitierten Quellen die Rede.“ Die Beurteilungen zur Situation Homosexueller in Afghanistan gehen auf das Urteil der Hamburger Verwaltungsrichterin Anja Meyer-Stender vom April 2005 zurück, das mittlerweile als Referenzpunkt für aktuelle Entscheidungen der Ausländerbehörde und der Gerichte in Hamburg dient.

Erkenntnisquellen

Die Anfrage der FR, inwieweit sie die Erkenntnisquellen überprüft habe, quittierte Richterin Meyer-Stender mit einem lapidaren „Ich bin dort nicht hingereist“. Wie es zu der Ausführung gekommen sei, die Praxis von Militärkommandanten, Jungen zum Sex zu veranlassen, als einen Beleg für eine homosexuelle Szene in Afghanistan anzusehen? „Das kann ich heute nicht mehr beantworten. Das ist schon zu lange her.“

Ashwani K.s sexuelle Orientierung hätte ein Abschiebungshindernis sein können. Seine Religionszugehörigkeit ein anderes. Als Hindu ist er in Afghanistan Angehöriger einer religiösen Minderheit. Anstatt Schutz vor nicht-staatlicher Verfolgung zu gewährleisten, beteilige sich die Regierung Karsai aktiv an der Verfolgung der Hindu- und Sikh-Minderheit, schreibt Danesch in seinem Gutachten vom Januar 2006. Nach der Ablehnung seines Eilantrags im November 2005 tauchte Ashwani K. unter. Sechs Monate später nahm ihn die Polizei fest. Nach zwei Tagen im Untersuchungsgefängis und fünf Nächten in Abschiebehaft kam er auf Intervention seines Anwalts frei.

Obwohl sein Asylfolgeantrag inzwischen angenommen wurde, lief seine Duldung am Dienstag dieser Woche ab. Normalerweise genießen Asylsuchende so lange Abschiebeschutz, bis über ihren Antrag entschieden ist. Stattdessen ordnete die Ausländerbehörde zunächst an, ihn zwangsweise mit der Bundespolizei abzuschieben. Dann ruderte die Behörde zurück. „Das war wohl ein Missverständnis“, hieß es bei einer Nachfrage. Anstatt ihm jedoch, wie zugesichert, eine Aufenthaltsgestattung auszustellen, bekam Ashwani K. erneut eine Duldung. Die läuft am 1. August ab. In Sicherheit weiß sich Ashwani K. schon lange nicht mehr.

Nina Schulz

Veröffentlichungen:

Artikel Wenn Kandahar zu San Francisco wird, Frankfurter Rundschau, 08.06.2006, S.3


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