„Aha, da sind sie, diese Queers.“

Schlagzeilen macht Polen nicht nur durch die aktuellen Wahlerfolge rechtsnationaler Parteien, sondern seit längerem schon wegen Ausschreitungen gegenüber Lesben, Schwulen, Queers und Transgender-Personen. Dass in Polen gleichzeitig eine queer-theoretische und queer-aktivistische Szene floriert, wird dabei gerne übersehen. Über die Herausforderungen queerer Theorie und Praxis berichten Joanna Mizielińska und Tomasz Basiuk, die beide an der Universität Warschau unterrichten.

Gibt es für das Wort „queer” eine Übersetzung ins Polnische?
Joanna: Wir benutzen hauptsächlich das englische Wort. Das hat Vor- und Nachteile: manchmal erspart es uns Probleme und manchmal funktioniert „queer“ im Polnischen als ein geheimes Wort, das nur Eingeweihten bekannt ist. Für den Rest bedeutet es nichts. Manchmal wird „queer“ auch als Abkürzung für „Schwule und Lesben“ benutzt. Dann aber in einem sehr identitätspolitischen Sinn. „In-your-face“- Politiken, die mit Queer Theory verbunden sind, werden dann nicht einmal erwähnt. 1

Tomasz: Es gibt eine Übersetzung, die einige von uns benutzt haben. Das Wort „odmieniec”. Das hat einen leicht archaischen Touch und bedeutet „verändert” oder „anders“. Ursprünglich war es ein Pseudonym, das die moderne Transgender-Dichterin Maria Komornicka verwendet, die eine maskuline Persönlichkeit als Piotr „Odmieniec” Wlast angenommen hat. Das Wort „odmieniec” bedeutet zugleich „Inversion“. Das ist ein altertümlicher Begriff für Homosexualität, den einige Sexualwissenschaftler an der Wende zum 20ten Jahrhundert verwendet haben. Die Worte „queer” und „odmieniec” sind in ihren Etymologien sehr unterschiedlich. „Queer“ kommt von einem alten germanischen Wort für „diagonal, quer durch etwas gehen“, „diagonal hinausgehen über“ oder „widersprechen“. Hingegen deutet „odmieniec” an: „Inversion“ oder „Umkehrung“. Es kann auch „Variante“ nahe legen.

Queer Theory wird oft dafür kritisiert, ein US-amerikanisches Import-Produkt zu sein. Welchen Ausdruck findet sie im polnischen Kontext?
Tomasz: Zunächst mal hat ein akademischer Diskurs über Homosexualität, der nicht medizinisch ist, nicht von „Abweichung“ handelt und nicht nach einem homosexuellen Gen sucht, einen gewissen Schock- Wert. Für viele ist es eine Art freudiger Überraschung. Ein gewisses „importiertes“ Ansehen dieser Themen hat geholfen, sie auf die Agenda zu setzen. Andererseits ist natürlich die Frage wichtig: Wenn queer eine Reaktion auf Identitätspolitiken US-amerikanischen Stils war, wie kann dieser Gedanke für einen polnischen oder gar europäischen Kontext übersetzt werden? Identitätspolitiken mögen aus einem Gefühl geteilter Unterdrückung und aus einer gemeinschaftlichen Entschlossenheit, etwas dagegen zu tun, hervorgehen. Aber das ist kaum die Geschichte von Queers in Polen, weil die lesbisch-schwule Bewegung erst in den späten 1980er oder sogar 1990er Jahre entstanden ist. Im Aktivismus und noch mehr im akademischen Bereich fand queere Entwicklung zeitgleich mit so etwas wie der Homobefreiungsbewegung statt. Und nicht aufeinander folgend wie in den USA. Das unterscheidet unseren Kontext sehr von einem amerikanischen und auch vom westeuropäischen Kontext.

Joanna: Queer Theory wird hauptsächlich im akademischen Bereich praktiziert. Die LGBT Bewegung scheint noch in ihrer emanzipativen Phase zu sein. 2 Das bedeutet, sie braucht noch eine relativ stabile Identität, um im Namen sexueller Minderheiten Rechte zu fordern. Aber Queer Theory liefert ein weitaus universelleres Handwerkszeug dafür, sich der heterosexuellen Normativität unserer eigenen Kultur anzunähern. Natürlich entstammt Queer Theory eigentlich aus der lesbisch-schwulen Bewegung und der Kritik daran. Aber: Wir haben das in Polen nicht erlebt, also was kritisieren wir wirklich? Und manchmal verkauft sich eine „identitäre Herangehensweise“ unter besonderen Umständen besser in der politischen Praxis. Das bedeutet, einige von uns werden Identitätspolitiken gegenüber immer geteilter Meinung sein: in der Theorie kritisch und in der Praxis unterstützend.

Im Jahr 2003 hat die Kampagne „Sollen sie uns doch sehen” 3 die Öffentlichkeit auf Anzeigetafeln und in einer Ausstellung mit Darstellungen homosexueller Paare konfrontiert. Was für Auswirkungen hatte diese Kampagne auf die polnische Öffentlichkeit und auf queere Politiken in Polen?

Joanna: Die Öffentlichkeit ist auf die Diskriminierung entlang sexueller Orientierung aufmerksam geworden. Schwulen und Lesben hat die Kampagne wahrscheinlich auch bewusst gemacht, dass sie gegen Homophobie kämpfen müssen und sich nicht in ihren privaten Räumen verstecken können. Es hat die ganze Community aktiviert. Man könnte die Kampagne die Geburtsstunde lesbisch-schwuler Politik nennen. Nichtsdestotrotz existiert die lesbisch-schwule Bewegung in Polen schon seit den frühen 1990er Jahren.

Tomasz: Die Kampagne war das Coming-Out der polnischen LGBTQ-Bewegung. Merkwürdigerweise ist dies nicht passiert, weil die Leute die Poster gesehen und sich mit den Worten „Aha, da sind sie, diese Queers. Natürlich sehen wir sie jeden Tag“, an die Stirn gefasst haben. Die Poster hingen nur in einigen größeren Städten. In anderen Städten waren sie verboten und in den meisten wurden sie innerhalb weniger Tage zerstört. Aber es gab einen riesigen Dominoeffekt. Medienexperten debattierten, ob diese Poster erlaubt sein sollten. Die Rechte tobte vor Wut und bezeichnete die Kampagne als „visuelle Aggression“, obwohl es sehr zahme Bilder von gleichgeschlechtlichen Paaren waren, die Händchen hielten und in Winterklamotten auf der Straße standen. Es gab diese politische Debatte über freie Meinungsäußerung. Also: „Sollen sie uns doch sehen“ war eine doppelte Herausforderung: für uns Queers, uns sichtbarer zu machen und für die Mainstream-Kultur, es zu wagen, uns anzusehen.

Welche Figur repräsentieren Homosexuelle in der polnischen Gesellschaft? Ein Queer-Theoretiker hat es einmal so beschrieben, dass in Polen als einem post-sozialistischen Staat „der Homosexuelle” für „den Bolschewiken, den Kommunisten“ steht. Deswegen könne er für kapitalistische Entwicklungen schädlich sein. Ist das auch ein subversives Image mit dem Ihr arbeitet?
Joanna: Dieser Tage ist die Figur des Homosexuellen mehr mit der EU verknüpft. Ich habe jüngst die Verbindung der Themen Nationalismus und Homophobie diskutiert: inwiefern nationale Identität in Opposition zu dem Anderen konstruiert wird und der/dem Anderen dann alles das zugeschrieben wird, was schlecht ist und keinen Platz in der eigenen Nation hat. In Polen kommt das Böse zu uns durch die unmoralische EU, die dringend die Erneuerung durch „ethische Werte“ brauche. Die würde Polen in die EU einbringen und dafür kämpfen. Diese „ethischen Werte“ sind: Respekt vor Religion (die natürlich immer Katholizismus ist), Familie und Tradition (die in diesem Diskurs Synonyme sind).

Tomasz: Das positive Image, das LGBTQ-Aktivisten in der Kampagne gegen Homophobie forciert haben, konnte auf den Werbetafeln gesehen werden. Queers wurden als junge StädterInnen dargestellt, nicht reich aber mutmaßlich aufstrebend. Einer der fotographierten 30 Männer (und 30 Frauen) war bereits im mittleren Alter und einer war nicht weiß. Bei genauerer Betrachtung haben die Fotographien eine neo-konservative Message übermittelt. Homosexualität ist irgendwie Teil einer konsumorientierten Kultur und passt zum Kapitalismus. Die unterprivilegierten Gruppen, wie kleine Bauern oder Pensionäre sind ausgeschlossen. Ich will die Kampagne auf dieser Basis nicht verdammen. Im Gegenteil, ich denke diese Bilder haben wichtige Arbeit geleistet. Es wäre aber naiv, nicht das sehr spezifische Toleranz-Argument zu sehen, das sie enthalten. Die Rechte, die natürlich fanatisch homophob ist, benutzt auf der anderen Seite sehr negative Bilder. Da könnten die Figur des/der Homosexuellen und des/der KommunistIn sehr gut zusammen passen. Aber die meisten Polen nahmen den Kommunismus eher als eine Bedrohung für die Familie und die nationale Identität wahr. Nicht als Bedrohung für den Kapitalismus. In Polen gibt es nur wenig öffentlich sichtbare Nostalgie für den Kommunismus. Es wird mittlerweile aber immer deutlicher, das der Prototyp des/der Homosexuellen der/die JüdIn ist. Die bekannte antisemitische Haltung, die zunehmend diskreditiert wird, wird jetzt auf Queers umgeleitet. Wie die JüdInnen werden Queers stereotyp als „anders“ präsentiert. Als eine Bedrohung von innen, eine Art Verseuchung mit epidemischem Potenzial.

Ein Queer- Aktivist aus dem früheren Jugoslawien sagte „Glaubt ja nicht, dass wir als Queer-Aktivisten hier die gleichen Fehler machen müssen, die ihr im Westen gemacht habt. Dass wir die gleichen Phasen von Assimilierung, Entradikalisierung und Integration durchlaufen müssen.“ Was denkt ihr darüber?

Joanna: Das US-Modell der LGBT Bewegung muss hinterfragt werden und wird die ganze Zeit hinterfragt. Eine Vertreterin der größten LGBT-Organisation in Finnland sage mir mal in einem Interview, dass die LGBT Organisationen aus Zentral- und Ost-Europa mit am sensibelsten, offensten und queersten sind. Vielleicht gibt es nicht den einen Entwicklungsweg der LGBT-Bewegung und wir müssen nicht die gleichen Phasen wie die US-amerikanische Bewegung durchlaufen. Vielleicht ist das US-Model nur ein Zufall und nicht ein universelles und allgemeingültiges Muster dessen, wo die Bewegung sich überall hinentwickelt.

Tomek: Es steht uns auch frei unsere eigenen Fehler zu machen, oder? Es gibt sicherlich viel Platz für Missverständnisse zwischen unterschiedlichen Schauplätzen und auch zwischen Ost und West. Hat Hannah Arendt nicht gesagt, eine erfolgreiche Revolution ist die, die es schafft eine neue Ordnung zu etablieren? Es gibt das Paradox, dass einige der gestrigen Revolutionäre die heutigen Funktionäre sind. Das ist aber ein generelles Phänomen. Also machen wir wahrscheinlich den „Fehler“, je früher desto besser. Das bedeutet aber nicht das Ende. Ich akzeptiere die Idee, dass es immer jemanden geben wird, der oder die radikaler ist als ich.

Wie gestaltet sich das vielbeschworene Zusammenspiel von Queer Theory und queeren Politiken in Polen?
Tomasz: Akademische Forschung sollte nicht einfach mit politischem Aktivismus gleichgesetzt werden, obwohl es natürlich viele gemeinsame Interessen gibt. Selbst wenn man Foucaults These akzeptiert, dass Wissen ein Machtinstrument ist, ist Aktivismus doch eine Menge mehr als das. Die Produktion von Wissen kann eine Form des Aktivismus sein, muss es aber nicht. Diese wechselseitige Beziehung zwischen Aktivismus und Theorie benötigt eine gewisse Demut oder sie riskiert, eine leere Geste zu werden. Die feministische Bewegung war in Polen queeren Anliegen gegenüber unglaublich unterstützend. Es wirklich die Errungenschaft der Feministinnen und nicht unsere. Und es ist umgekehrt sehr wichtig, dass eine queere Argumentation ganz explizit deutlich macht, dass Patriarchat und Zwangsheterosexualität miteinander verbundene Phänomene sind.

Joanna: Heute in Polen über queere Politik zu sprechen ist schwierig. Zwischen queerer Theorie und Praxis besteht eine riesige Diskrepanz. Gleichzeitig arbeiten Theorie-ProduzentInnen in verschiedenen Organisationen und machen sie queeren Thematiken gegenüber aufgeschlossener. Allerdings kann man sich einen radikalen queeren Aktivismus hier auch nur schwer vorstellen, wenn schon so zahme Aktionen wie „Sollen sie uns doch sehen “ solche Spannungen hervorrufen. Die Diskrepanz von Theorie und Praxis ist jedenfalls nicht nur schlecht. Die Bewegung braucht ihre KritikerInnen. Die KritikerInnen brauchen die Bewegung.

Joanna Mizielińska unterrichtet im Bereich Gender Studies am Institut für Angewandte Sozialwissenschaften an der Universität Warschau in Polen.

Tomasz Basiuk unterrichtet am American Studies Center an der Universität Warschau in Polen.

Interview und Übersetzung aus dem Englischen: Nina Schulz

Anmerkungen:
1 “In your face“ bedeutet im Englischen: offensiv, offen und direkt, kein Wegschauen ermöglichend.
2 LGBT steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender und Transsexual.
3 Organisiert hat das Ganze die „Kampagne gegen Homophobie“, die 2001 als nicht-staatliche Organisation gegründet wurde und in ganz Polen tätig ist. Die Darstellungsidee kam von der Künstlerin Karolina Bregula.

Veröffentlichungen:

Interview „Aha, da sind sie, diese Queers”, analyse&kritik, 21.10.2005, S.11


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