Es wird Zeit, sich zu verbünden

Semra Ertans Gedichte erzählen vom Kampf gegen Ausgrenzungen und Zuschreibungen – aus Protest gegen Rassismus nahm sie sich 1982 das Leben


»Ich möchte, dass Ausländer nicht nur das Recht haben, wie Menschen zu leben, sondern auch das Recht haben, wie Menschen behandelt zu werden. Das ist alles. Ich will, dass die Menschen sich lieben und akzeptieren. Und ich will, dass sie über meinen Tod nachdenken.«

Dieser Aufruf Semra Ertans war der Grund dafür, fast 40 Jahre nach ihrem Tod eine Auswahl ihrer Briefe, Fotografien, Gedichte und deren handschriftliche Originale in dem Buch »Mein Name ist Ausländer | Benim Adım Yabancı« zu veröffentlichen. Mit der Publikation ihrer Gedichte möchte Semra Ertans Familie nicht nur zu ihrem Gedenken, sondern auch zu einer anderen Geschichtsschreibung beitragen, indem sie die Widerständigkeit von Arbeitsmigrant*innen aus den 1970er-Jahren betonen.

Semra Ertan wurde 1957 in Mersin/ Turkei geboren und zog 1972 zu ihren Eltern in die Bundesrepublik Deutschland. Sie arbeitete als technische Bauzeichnerin, Dolmetscherin, Schriftstellerin und Dichterin. Als die NPD-Tarnorganisation Hamburger Liste für Ausländerstopp im Jahr 1982 zur Bürgerschaftswahl antrat, demonstrierte sie dagegen.

Am 24. Mai 1982 verbrannte sich Semra Ertan in Hamburg, um ein Zeichen gegen den zunehmenden Rassismus im Land zu setzen und starb zwei Tage später an den Folgen. Ihre Entscheidung zu diesem aufrüttelnden Protest kündigte sie vorher beim ZDF und NDR an, las ihr Gedicht »Mein Name ist Ausländer« und endete mit dem eingangs genannten Zitat. Einige Tage zuvor war sie bereits in den Hungerstreik getreten.

In Hamburg erinnert die 2018 gegründete Initiative im Gedenken an Semra Ertan jeweils am 26. Mai, ihrem Todestag, mit einer Gedenkveranstaltung an sie. Außerdem fordert die Initiative, eine Straße oder einen Platz nach Semra Ertan zu benennen und eine Gedenktafel für sie anzubringen. Sowohl Semra Ertans als auch andere Gedichte sind dabei immer ein tragender Teil des Gedenkens.

Widerstände

Die – nun publizierten – Gedichte Semra Ertans sind kritische, feingezeichnete und bewegende Gesellschaftsbetrachtungen grundlegender sozialer Ungerechtigkeiten, handeln von Rassismus, Klassismus, der Rolle der Frau und – wie sie selber sagte – von »Vorurteilen«. Sie handeln auch von Einsamkeit, Verzweiflung, Liebe und dem Schreiben an sich.

Gleichzeitig wendet sich Semra Ertan gegen jede Form von Zuschreibung – ob als Frau, als nicht-weiße Person oder als Dichterin. Sie hinterfragt Normierungen von Geschlecht, Sprache und Denken. Und betont ihre Praxis des Schreibens (»Verbessern werde ich meine Worte nicht«), ihre Ausdauer als Autodidaktin:

»Ich bin eine unerfahrene Dichterin, Mein Stift ist unerfahren, Mein Blatt ist unerfahren, Niemand kennt mich. Ich kenne niemanden, Niemanden interessiert es, was ich schreibe; Aber mich.«

Ihre Unermüdlichkeit, sich auszudrücken (»Nie müde gewesen vom Schreiben«).

Sie spielt mit Sprache und auch mit den white spaces auf den Seiten: lässt Lücken und kreiert kreative Umbrüche. Sie wendet Techniken wie die der Anapher (Sätze beginnen gleich) oder der Alliteration (der gleiche Anlaut von zwei oder mehreren aufeinanderfolgenden Worten) an. Sie lässt Konventionen hinter sich und bricht bewusst mit Traditionen wie der Ghasele, einer lyrischen, persisch-arabischen Gedichtform, die sich mit Lebensgenuss und Liebe beschäftigt und die sich u.a. Goethe kulturell angeeignet hat.

Die Gedichte Semra Ertans sind Gesellschaftsbetrachtungen grundlegender sozialer Ungerechtigkeiten. Sie handeln auch von Einsamkeit, Verzweiflung, Liebe und dem Schreiben an sich. Jedes Gedicht ist mit einem Datum und manchmal der Uhrzeit und einem Titel versehen, teilweise mit Zeichnungen oder handschriftlichen Anmerkungen. Oft mit ihrem Vornamen unterzeichnet. Die Gedichte sind auf Deutsch und/ oder Türkisch verfasst. An einigen Stellen wirkt es so, als ob die Gedichte miteinander in einen Dialog treten: sich zuhören, sich antworten und sich dann wieder befragen. Semra Ertans poetische Stimme ist unkonventionell, erfinderisch und voller Gleichzeitigkeiten: dringlich und geduldig, zornig und zärtlich, verzweifelt und hoffnungsfroh, kritisch und schmerzvoll, vereinzelt und verbindend.

Verbündete

Mehr Verbindungen wollte sie auch mit anderen Schreibenden eingehen und sich gewerkschaftlich vertreten sehen. Ende März 1982 – also knapp zwei Monate vor ihrer Selbstverbrennung – wurde Semra Ertan Mitglied beim Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller.

Was bedeutet ihr Aufruf, über ihren Tod nachzudenken für andere Schreibende? Für mich wirft er zahlreiche Fragen auf: Wie würden sich Geschichte(n) heute anders lesen lassen, wenn Semra Ertan schon Ende der 1970er Jahre veröffentlich worden wäre? Was hätte sich in den 1980er-Jahren verändern können, wenn Künstler*innen wie Semra Ertan hätten gelesen werden können? Hätten sich damalige Erzählungen über Rassismus, Teilhabe, Feminismus und Migration verändert, ebenso wie künstlerische Praxen und Kulturproduktionen? Was hätte die Zugänglichkeit dieser migrantischen Gesellschaftskritik bewirkt? Was bewirkt es heute, wenn Zeitungen (wie ak) Semra Ertans Gedichte abdrucken? Wenn die Ausschlüsse hinterfragt werden, die »anerkannte« Ästhetiken, Narrative und Formen des Kunstbetriebs produzieren? Und welche Rolle kann Poesie in der Gegenwart für Gedenken, für veränderte Geschichtsschreibungen und für Forderungen nach Gerechtigkeit spielen? Wie würden sich gegenwärtige Erzählungen verändern, wenn Arbeiten wie die von Semra Ertan in den schulischen Unterrichtskanon aufgenommen würden?

Dass Schüler*innen Semra Ertan lesen, ist ein Wunsch, den auch ihre Familie hegt und sie – Zuhal und Cana Bilir-Meier sowie Can-Peter Meier – im Vorwort des Gedichtsbandes formulieren lässt: »Die Einzigartigkeit von Semra Ertans Lebenswerk ist unbestreitbar. Und doch haben wir uns gefragt, wie viele weitere Archive anderer Denker*innen und Kunstler*innen verlorengegangen sein konnten, weil ihnen Blick und Gehor verwehrt wurden.« Dort beschreiben sie auch ein weiteres ihrer Anliegen, nämlich »dass sie durch ihr Schreiben auch heute noch viele Verbundete finden wird, auf deren Suche wir uns mit diesem Buch begeben wollen«.

Es wird Zeit, sich zu verbünden. Es wird Zeit, dass Semra Ertans Gedichte zirkulieren. Ihr Schreiben beginnt 1971 mit ihrer Ankunft in Deutschland als sie 15 Jahre alt ist. Und endet mit ihrem Gedicht »Mein Name ist Ausländer«. Jetzt wirkt es, als ob dieses Ende gleichzeitig auch ein Anfang sein könnte. Ein Anfang für ein Erzählen anderer Geschichten in der Gegenwart. Ein Anfang für ein anderes Gedenken an rassistische und andere strukturelle Gewalterfahrungen. Ein Anfang für einen Austausch darüber, wie Gedenken und Gerechtigkeit aussehen können und wie andere Erzählungen unsere Vorstellungen dessen, was möglich ist, grundlegend verändern können.



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