Archiv der Gassenhauer

50 Sekunden Berichterstattung in den nationalen Fernsehnachrichten. Mehr Öffentlichkeit gestanden die britischen Fernsehsender 1994 der Protest-Kampagne gegen die Ausdehnung der Londoner Stadtautobahn M11 nicht zu. Wäre da nicht eine Gruppe britischer Videoaktivisten gewesen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, „die Nachrichten, die Sie nicht in den Nachrichten sehen“, zu produzieren.

Genervt vom Fernsehen, das die pulsierenden britischen Protestbewegungen der 1990er Jahre trivialisierte oder einfach ignorierte, gründeten Thomas Harding, Jamie Hartzell, Zoe Broughton und Paul O’Connor 1993 die Gruppe Undercurrents – eine gemeinnützige Organisation von Camcorder-Aktivisten. Ihr erstes Video über die M11-Proteste You’ve gotta be chokin’ dauerte 35 Minuten, bekam zahlreiche Preise auf Filmfestivals und erlangte als der maßgebliche Dokumentarfilm über britische Autobahngegner internationale Berühmtheit.

Cricket auf Genfeldern

Undercurrents sind wörtlich genommen die unsichtbaren Unterströmungen eines Flusses. Paul O’Connor erklärt sie als „machtvolle Kräfte, die am Rand der Mainstream-Gesellschaft wachsen, bis sie, scheinbar aus dem Nichts, oberirdisch auftauchen“. Das Videokollektiv schlägt sich auf Seiten der Protestler, Objektivität liegt den Camcorder-Aktivsten fern. Ihre zehn 90-minütigen auf eigene Faust vertriebenen Videomagazine wurden mehrfachpreisgekrönt – sie berichteten unter dem Label Undercurrents unnachgiebig über Umweltzerstörung, Polizeibrutalität, radikale Proteste, Raves, Rassismus und Cricket auf gentechnischen Versuchsfeldern. 1999 änderten die Medienkritiker ihr Format: Die neue Reihe Global Views dokumentierte Folgen der Globalisierung weltweit. Neben Hintergründen über Global Players wie IWF, Weltbank und WTO brachte sie Informationen über internationale direkte Anti-Globalisierungs-Aktionen.

Heute produzieren die Medienkreativen Videoformate, Filme für das Netz und DVD-Zusammenstellungen mit Animationen, Dokumentationen und experimentellen Werken radikaler Produzenten. Sie bieten Workshops zu Medienaktivismus an, touren mit ihren Filmen auf Festivals und organisieren seit sechs Jahren das BeyondTV Video-Aktivismus-Festival. Das von Thomas Harding herausgegebene Video-Activist-Handbook ist inzwischen zu einer Art Manifest für kritische Filmschaffende geworden.

Camcordistas

Auch in den etablierten Medien gelten die Videoaktivisten, die sich selbst Camcordistas nennen, als journalistisches Phänomen. Der frühere Pressesprecher Margaret Thatchers, Sir Bernhard Ingham, kommentierte das subversive Potential der Videos als „einen Versuch, Autoritäten zu unterlaufen und zu provozieren“. Der britische Schriftsteller und Filmjournalist John Pilger, der selbst auf Seiten der Globalisierungskritiker steht, sieht genau dieses Potenzial positiv – denn „in einem Zeitalter der Medienkonformität, müssen wir mehr abweichende Stimmen hören“.

Camcordista Paul O’Connor glaubt, seine Aktivisten hätten während der 90er Jahre viele junge Journalisten beeinflusst, die jetzt in einflussreichen Positionen säßen. „Sie haben ein ausgeprägteres Verständnis dafür, warum Hunderttausende aus Protest auf die Straße gehen.“ Die Camcorder-Optik benutzen mittlerweile zumindest alle größeren Medienanstalten.

Your are not alone

In einem „Archive of Dissent“ haben Undercurrents gut 2000 Stunden Filmmaterial von radikalen Protesten aus der ganzen Welt gesammelt. Mehr als 100 Fernsehanstalten in 15 Ländern greifen darauf zurück, auch die Sender BBC, ITN, Channel 4, Sky und CNN. Regisseur Michael Moore nutzte Material daraus für seine Dokumentation Fahrenheit 9/11. Der alternative Absatzmarkt für Nachrichten ist nach O’Connors Meinung notwendiger denn je, die Berichterstattung „im so genannten Krieg gegen den Terror“ findet er schlichtweg grässlich. „Eine BBC-Journalistin hat gerade unser Videoaktivisten-Handbuch gekauft, weil sie über die G8-Proteste berichtet und wissen möchte, was sie erwartet. Das zeigt, wie nützlich wir für den Mainstream sind.“

Auf die Frage, ob eine tägliche, alternative Nachrichtensendung in den etablierten Medien etwas ändern würde, wenn es hieße „Good evening, here is the real news“, kann O’Connor nur schmunzeln. Er sieht die Sendestationen im Bund mit globalen Marken und glaubt nicht an Chancen für seine Wahrheit. „Es ist besser, ein lebendiges Netzwerk von Aufführungen in Kinos und kommunalen Zentren zu haben und das Fernsehen zu umgehen.“

Auch beim G8-Gipfel, der noch bis Samstag im hochgesicherten Nobelhotel Gleneagles, Schottland, stattfindet, werden die Undercurrents dabei sein. Sie werden Dokumentations-Workshops anbieten, Videoberichte über Proteste ins Netz stellen, das alternative Medienzentrum vor Ort mit organisieren, ihre Filme zeigen – und natürlich selber filmen. „You are not alone, you are on camera“ bekommt für sie dann eine gesellschaftspolitische Bedeutung.
Dass dabei mehr als 50 Sekunden Berichterstattung herauskommen, ist inzwischen ziemlich sicher.

Nina Schulz

Mehr Infos unter: www.undercurrents.org

Veröffentlichungen:

Artikel Archiv der Gassenhauer, Süddeutsche Zeitung, 07.07.2005
Artikel Die unsichtbaren Strömungen, Menschen machen Medien Magazin, 09/10 2005


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