Leben mit der Krankheit – persönliche und politische Perspektiven
Dear Susan,
bitte erlauben Sie mir, Ihnen für Ihre bahnbrechende Arbeit in »Krankheit als Metapher« zu danken. Ihr Text ist für mich visionär, wie Sie es in so Vielem waren. Und hat mir enorm geholfen, die Analyse, wie ich und »mein« Krebs »behandelt« werden, zu schärfen. Gerne möchte ich meine persönlichen Perspektiven zu einzelnen Passagen Ihres Buches skizzieren und einen Austausch anzetteln. Auch, um in diesen turbulenten Zeiten ein wenig Verbundenheit zu schaffen.
Ich danke Ihnen von ganzem Herzen.
Mit tiefstem Respekt,
Nina
Überraschung und Invasion
»Heute ist der Krebs an der Reihe, die Krankheit zu sein, die nicht anklopft, bevor sie eintritt, ist es der Krebs, der die Rolle einer als erbarmungslose, geheime Invasion erfahrenen Krankheit übernimmt – eine Rolle, die er so lange behalten wird, bis seine Ätiologie eines Tages so klar und seine Behandlung so wirksam sein werden, wie es die der Tb geworden sind.« Susan Sontag
Ab dem Moment meiner Krebsdiagnose fand ich mich auf einer extrem emotionalen Achterbahnfahrt wieder, die begann, bevor ich ahnte, dass ich eingecheckt hatte. Zusammen mit meinen liebsten Menschen verwandelte sie sich in eine kollektive Bewegung ins Ungewisse. Zuerst hast Du Angst, dass die Bahn in den Boden crasht. Gerade als klar wird, sie wird genau das nicht tun, kippt das Geschehen in unerwartete, fiese Wendungen, als Du wieder dachtest, Du weißt endlich, wo es langgeht.
Erlaubt mir an dieser Stelle, ein paar Einsichten für Mitreisende zu teilen. Erstens, versuche, Deiner neuen Klarheit zu vertrauen und Dich nicht zu sehr vom Schwindel, der Schnelligkeit und der Abfertigung ablenken zu lassen. Zweitens wird diese Achterbahn zwischendurch zu Deiner ganz persönlichen Geisterbahn, in der fast alle Deine Ängste schonungslos auftreten werden. Durch diese Geisterbahn wirst Du öfter als einmal fahren. Freunde Dich unbedingt mit Deinen Geistern an, damit sie Dich nicht jedes Mal wieder zu Tode erschrecken, wenn sie auftauchen. Natürlich ist es keine Überraschung, wie unfassbar anstrengend das wird. Drittens: Du solltest Dir ein eigenes Bremssystem basteln und lernen, es zu benutzen. Um mit der Zeit, dem Tempo und den Auswirkungen umzugehen. Der Krebs hat nicht angeklopft, er hat sich selbst eingeladen, saß bereits im Waggon und hat den Startknopf gedrückt. Wie die Fahrt enden wird? Die Antworten schweben in der Luft …
Todesurteile
»Dies ganze Belügen und Lügen von Krebspatienten ist ein Maßstab dafür, wieviel schwieriger es in den hochentwickelten Industriegesellschaften geworden ist, mit dem Tod zurechtzukommen. Da der Tod heute nun einmal ein beleidigendes bedeutungsloses Ereignis ist, wird die Krankheit, die weitgehend als Synonym für Tod betrachtet wird, als etwas erlebt, das versteckt werden muss.«
Diese Analyse hat mich tief berührt. Plötzlich wirst Du zu einem Spiegel der Sterblichkeit, zu einer kompromisslosen Konfrontation mit der Todesangst vieler Menschen (und eventuell anderer Ängste), eine verkörperte Erinnerung daran, dass unsere Zeit endlich ist, ein Weckruf, dass jede*r die* Nächste sein könnte. Mit einer Krebsdiagnose entkommst Du diesen Todeszuschreibungen nicht.
Das kann zu Verheimlichungen, Lügen und Schweigen führen. Der Mangel an Kommunikation und die damit einhergehende mögliche Isolation sind die schlimmsten Aspekte der Krebserkrankung. Das habe ich schon aus den Erfahrungen meiner Ma gelernt, als sie sich mit Krebs konfrontiert sah. Das wollte ich nicht wieder erleben.« (…) es ist eine Notwendigkeit, dem Leben mit Krebs eine Stimme zu verleihen, außerhalb der betäubenden Akzeptanz des Todes als einer Resignation, die nach der Rage und vor der Verzweiflung wartet«, wie Audre Lorde sagte. Das ist einer der Gründe, weshalb ich mit meinen liebsten Menschen einen Austausch über meine Situation angefangen habe. Reflektiert, aber auch unreflektiert. Es war genau dieser Austausch, der mich auch gerettet hat …
Denn Krebs und andere lebensbedrohliche Krankheiten neigen dazu, fast täglich schwierige Entscheidungen zu verlangen. Manche Krankheiten sind Entscheidungs-Beschleuniger, allein schon wegen ihres Todesversprechens. This Drama. Aber wer die Entscheidung trifft über das Was, Wie, Wann, Wer und Warum, wird eine ganz neue waghalsige Disziplin. Du musst schnell lernen. Und diese Lernkurve ist steil …
Chancen
»(…) gelten die Hauptsymptome von Krebs charakteristischerweise als unsichtbar – bis zum letzten Stadium, wo es zu spät ist. Die Krankheit, die oft zufällig oder im Verlauf einer medizinischen Routineuntersuchung entdeckt wird, kann weit fortgeschritten sein, ohne irgendwelche merkbaren Symptome sichtbar werden zu lassen. Man hat einen undurchschaubaren Körper, der zu einem Spezialisten gebracht werden muß, der herausfinden soll, ob er Krebs enthält. Was der Patient nicht feststellen kann, wird der Spezialist durch die Analyse von Geweben bestimmen, die dem Körper entnommen werden. Tb-Patienten dürfen ihre Röntgenbilder sehen oder sogar selbst besitzen: Die Patienten im Sanatorium des Zauberberg tragen die ihren in der Brusttasche mit sich herum. Krebspatienten schauen sich ihre Biopsien nicht an.«
Die Super-Spezialisten: Die zugespitzte Arbeitsteilung innerhalb des neoliberalen Systems verschärft selbstverständlich die Schwierigkeit, komplexe und/oder chronische Krankheiten wie Krebs zu erfassen. Es gibt eine immer weiter aufgefächerte Auswahl an Super-Spezialisten, die Deinen Körper als einen Auftrag entgegennehmen können, aber keine Person, die in der Lage ist, Dir eine ganzheitliche Beurteilung der Konsequenzen zu geben. Die Ärzt*innen können Dich über einen spezifischen Streckenabschnitt aufklären, aber keine*r wird Dir die ganze Reise erklären, ganz davon zu schweigen, was passiert, sollte etwas entgleisen. Zwar gibt es Tumor-Konferenzen, wo Onkolog*innen, Radiolog*innen und Chirurg*innen Dein Anliegen behandeln, aber das heißt nicht, dass es ihnen unbedingt ein Anliegen ist.
Fairerweise muss ich einräumen: Es gibt Ausnahmen. Manche Ärzt*innen geben sich Mühe, Dir so viel wie möglich zu erklären. Aber zögere nicht, fortlaufend Fragen zu stellen. Und versuche, eine zweite Meinung einzuholen, um die Eigenschaften Deines Krebses zu erfassen. Manche von uns werden selbst Expert*innen, um die ganzen medizinischen Eigenarten des Krebses zu verstehen, um wenigstens ein bisschen Kontrolle über unser Leben zurückzugewinnen. Eine solche Expertin wurde ich nicht. Finde es aber entscheidend, wie und wodurch Du Deinen eigenen Zugang zum Krebs und zu den Narrativen findest, die für Dich am besten funktionieren: ob es das medizinische, sozio-politische, spirituelle, eine Mischung aus allen oder ganz anderen ist. Nimm Dir Zeit, das Narrativ Deines Lebens neu zu entwerfen.
Raum und Zeit
»Metaphorisch gesehen ist Krebs nicht so sehr eine Krankheit der Zeit als eine Krankheit oder Pathologie des Raumes. Seine hauptsächlichen Metaphern beziehen sich auf die Topographie (Krebs breitet sich aus, wuchert, oder dehnt sich aus; Geschwülste werden chirurgisch entfernt), und seine am meisten gefürchtete Folge, fast gleichrangig mit der Furcht vor dem Tod, ist die Verstümmelung oder Amputation eines Teils des Körpers.«
Metaphorisch gesprochen ja. Der Krebs lässt Dein Sicherheitsgefühl zersplittern und vernebelt jegliche Koordinaten für Raum und Zeit. Krebs ist ein grober und grausamer Intensivkurs in Sterblichkeit und entfaltet sich dadurch als eine Krankheit der Zeit. Es geht um unsere Endlichkeit, und in diesem Sinne ist er fast brutal und extrem streitsüchtig. Krebs zerschneidet gnadenlos persönliches Zeitempfinden. Es ist bewusstes (Er)Leben mit einer Begrenzung, zeitbezogen. Zukunftspläne? Liegen für eine Weile auf Eis. Frühere Entscheidungen? Manche taugen, andere nicht. Aufgeschobene Belohnungen? Entscheide, welche Du zuerst erfüllst. Unerledigte Aufgaben? Priorisiere und polarisiere. Zeit verschwenden? Ein Luxus, der für diejenigen reserviert ist, die nicht todkrank sind.
Als ich angefangen habe, die Diagnose zu verarbeiten, klang die erste Dringlichkeit ab. Tatsächlich werde ich sehr wohl meine Zeit verschwenden, dieser ultimative Ausdruck einer Leichtigkeit, eine Liebkosung des Widerstands. (Danke, An.!) Und darin dem Produktivitätsparadigma unserer Zeit sorglos die Stirn bieten. Mische Dich in Zeitlichkeiten ein. Lerne, Dein eigenes Zeitempfinden zu entwickeln und zu schützen. Es gleichzeitig gegen den Puls der ungeduldigen Gegenwart zu gestalten, gegen den Schatten Deiner drohenden Sterblichkeit, gegen die Ablenkung Deiner rückfällig gewordenen Ängste, an den Ufern Deiner angespülten Vergangenheiten und inmitten der Verspieltheit Deiner vorgestellten Unsterblichkeit. Die Aufgabe der Zeitaufnahme verwandelt sich unermüdlich und bleibt unvollendet, allerdings ist sie zu einem integralen Bestandteil meiner persönlichen Anti-Krebs-Kampagne geworden. Sich auf Null stellen. Sich wieder aufrappeln. Sich wieder holen.
Während der eventuell erschöpfenden Begegnungen mit Deiner Nach- und Vor-Sorge kann es sein, dass Dich der neue Takt verspannt: mit seinen einschüchternden, wenn auch sich wiederholenden Momentaufnahmen der Kontroll-Termine, der Wartezimmer, der Ergebnisse, der Entscheidungen, der Handlungen, der Pausen, der Kontroll-Termine, der Wartezimmer, der Ergebnisse, der Entscheidungen, der Handlungen, Pause. Das erfordert ein Zen, das Du erst lernen, und dann etablieren musst. Leider werden Entspannungstechniken nicht mit der Diagnose geliefert. Ich leihe mir den Begriff »innere Kampfkünste«, um meine Innenausstattung für die kommenden Kontroversen zu beschreiben. Negative der Zeit, als ein gleichzeitiges, definitiv nicht gradliniges Zusammensein von Momentaufnahmen, sind ein Teil davon. Und wenn die Angst sich anschleicht, dann dem jetzigen Moment die volle Aufmerksamkeit zu schenken, sich ihm fast aufgebracht hinzugeben, diese Hingabe lindert die Sorge schon etwas – die einer Zukunft, die vielleicht nie kommen wird. Verschwendung.
Noch etwas zum Wünschen: Die eigene Erfahrung, in existentiellem Limbo zu leben, hilft vielleicht, diese Empathie auf andere auszudehnen. Andere, die mit den ähnlichen und den einzigen Konstanten rechnen müssen: Ungewissheit und Unvorhersehbarkeit. Wie Geflüchtete, die auf die Chance warten zu fliehen, die darauf warten, sicher anzukommen, die darauf warten, ein neues Leben zu beginnen. Dazu schreibt Homi K. Bhabha: »Die Politiken des Wartens sind kein passiver Zustand: für Migrant*innen ist es die Sorge des Voraussehens, die sich in der lebenden Hölle der Natalität abspielt.« Vielleicht kann das Warten ein bisschen weniger »Hölle« werden, wenn wir diese verschiedenen Erfahrungen von Verletzlichkeit teilen. Wenn das eine Basis für breitere Koalitionen und ein sich »Umeinander sorgen« schafft, das in neue Formen des Aktivismus ausufert. Verbindender und verbundener Mut und Mitgefühl als Ausdruck von Mit-Auseinandersetzung und Mit-Leiden. Miteinander statt Gegeneinander. Judith Butler nannte dies »Verletzlichkeiten als eine Form des Aktivismus oder als das, was auf eine Art in Widerstandsformen mobilisiert wird.« Kante zeigen.
Fragen
»Ganz ähnlich kann der Beweis, dass es krebsanfällige Familien und bei Krebs möglicherweise einen Erbfaktor gibt, akzeptiert werden, ohne dem Glauben etwas anzuhaben, dass Krebs eine Krankheit sei, die jeden einzelnen Menschen als Individuum strafend trifft. Niemand, der Cholera oder Typhus bekommt, fragt: Warum ich?. Aber Warum ich? (im Sinne von das ist ungerecht) ist die Frage vieler, die erfahren dass sie Krebs haben.«
Um ehrlich zu sein, habe ich mir diese Frage nie gestellt. Bis heute lehne ich die vielen angebotenen Erklärungen für die Ursachen der Entstehung von Krebs ab. Und glaubt mir, es gibt Erklärungsangebote. Sehr viele. Es gibt keine tiefere Bedeutung, keinen Test und/oder Forschungsauftrag, keine Aufforderung, Dein Leben von jetzt an zu ändern, keine Mission, endlich Deinen Träumen zu folgen, keine Weisheit, womit Du Dein Leben bewusster leben wirst. Ich glaube nicht an das Veränderungsversprechen oder an den »Jüdisch-Christlichen Glauben von Erlösung nach der Krise«, wie Am. es rahmte. Du kannst Dich entscheiden, mit der Krankheit zu arbeiten, aber echt jetzt: Das ist keine Komponente im Gesamtpaket. Die ursprüngliche Krebszustellung beinhaltet schon genug. Du brauchst keine Extra-Features. Erlaube Dir zu akzeptieren, dass manche Dinge einfach keine tiefere Bedeutung haben. Der Krebs teilt weder Gerechtigkeit noch Strafe aus, keine Krankheit macht das. Aber wie in allen Ability-Angelegenheiten, lindert Akzeptanz alleine alles. Almost.
Vergiftung
»So sehr diese Krankheiten aber individualisieren, sie übernehmen doch einige der Metaphern für epidemische Krankheiten. (…) und Krebs gilt heute als eine Krankheit infolge der Vergiftung der ganzen Welt.«
Ziemlich überraschend also, wenn die ganze Welt kontaminiert ist, dass Krebs immer noch als eine Krankheit wahrgenommen wird, die nur »Andere« bekommen, obwohl ein nüchterner Blick ins Umfeld uns eine ganz andere Realität präsentiert. Lässt die Angst vor einer potenziell tödlichen Krankheit Menschen denken, es sind immer nur die Anderen, die die Krankheit bekommen? Eine Vermeidung der eigenen Verletzbarkeit? Andererseits besitzen manche Menschen hoch funktionsfähige Verdrängungsmechanismen. Angeblich sind die Überlebenschancen bei Krebs auch gestiegen, aber höchstwahrscheinlich nur für diejenigen, die sich eine Gesundheitsversorgung leisten können, und dafür ist ein gut funktionierendes Gesundheitssystem auch förderlich. Trotzdem sind Krebs-Statistiken einfach ernüchternd. Genauso wie die damit einhergehende Sprache: Nach zehn Jahren wirst Du als »Langzeitüberlebende*r« eingestuft. Geht es noch unangemessener? Was? Ihr nennt zehn Jahre »Langzeit«? Was für eine Beleidigung. Für alle Überlebenden.
Kriegführung
»Das Krebsverständnis stützt ganz andere, zugegebenermaßen brutale Auffassungen von Behandlung. (Ein üblicher Scherz in Krebskrankenhäusern, den man von Ärzten ebenso oft hören kann wie von Patienten, lautet: Die Behandlung ist schlimmer als die Krankheit.) Davon, dass der Patient verzärtelt werden könnte, kann keine Rede sein. Wenn man einmal davon ausgeht, dass der Körper des Patienten von einem Angriff (einer Invasion) bedroht wird, kann die einzige Behandlung nur in einem Gegenangriff bestehen. Die kontrollierenden Metaphern in den Beschreibungen von Krebs sind tatsächlich nicht der Ökonomie entlehnt, sondern der Sprache der Kriegführung. (…) So vervielfachen Krebszellen sich nicht einfach, sie sind invasorisch. (…) Die Behandlung hat ebenfalls einen militärischen Beigeschmack. Die Strahlentherapie nutzt die Metaphern des Luftkriegs; die Patienten werde mit toxischen Strahlen beschossen, und die Chemotherapie ist die chemische Kriegführung, bei der Gifte eingesetzt werden. Die Behandlung zielt darauf ab, die Krebszellen zu töten (ohne, so hofft man, den Patienten umzubringen). (…) doch steht man auf dem Standpunkt, dass nahezu jeglicher Körperschaden gerechtfertigt ist, wenn nur das Leben des Patienten gerettet wird. Oft funktioniert das natürlich nicht.«
In meiner ersten E-Mail an meine Kolleg*innen habe ich über das Kämpfen geschrieben, um dann unmittelbar danach zuzugeben, ich habe überhaupt keine Lust auf Kämpfen, Durchhalten, Ringen mit meinem Körper. Stattdessen fühlte ich mich schon total erschöpft. Die Kampf-/Kriegssprache war für mich nicht stimmig. Machte mir aber bewusst, wie sehr diese Metaphern in unserem Sprachgebrauch verhaftet sind. Wie wir die gutgemeinten Zusprüche von »Du wirst den Krebs besiegen! Du wirst ihn bekämpfen!« erst einmal verlernen müssen, weil sie nicht immer hilfreich sind. Wenn Eine*r dabei ist zu sterben, willst Du vielleicht lieber darüber reden, wie ihr die Energien, die noch da sind, einteilen wollt und wie ein guter Tag aussehen könnte. Noch eine Bemerkung bitte: Der Krebs ist keine Einladung für generelle Tipps zur besseren Lebensführung, wie: aufhören zu rauchen, zu trinken, Fleisch zu essen und anzufangen, Sport zu machen. Nur weil wir krebskrank sind, wollen wir nicht den Rest unserer Tage damit verbringen, einen Neujahrsvorsatz nach dem anderen zu erfüllen und dabei Heilige zu werden.
Ebenso haben scheinbar einfache Fragen, beiläufige Bemerkungen und plumpe Phrasen eventuell ihre ursprüngliche Belanglosigkeit verloren und sind stattdessen hochaufgeladen. Ein harmloses »Wie geht es Dir?« könnte jetzt zu einem glühenden Klagelied führen. Sorry im Voraus: Die erwarteten Antworten sind eindeutig ausgegangen. Gleichzeitig gehen die Herausforderungen an Kommunikation und sich verbunden zu fühlen weiter: Deinen eigenen Ausdruck zu finden, um das zu adressieren und zugänglich zu machen, was Du durch- und erlebst. Für Dich. Für Andere. Dass dieser Prozess nie wirklich zu Ende ist. Dass er definitiv nicht nur für den Krebs gilt, sondern für jede Erfahrung, die lebensverändernd ist und sich zu nah am Tod und/oder der Gewalt bewegt.
Was mir auch aufgefallen ist: Alle in der Reha-Klinik äußerten das Gefühl, letzten Endes ganz viel Glück gehabt zu haben. Egal wie schwer die Operation(en), wie viele Chemotherapien oder Bestrahlungen, wie beeinträchtigt die früheren Fertigkeiten wurden. Es erfüllt mich mit Demut darüber, was Menschen aushalten, durchhalten, und woraus sie wieder hervorgehen können. Und wie dankbar Menschen für das Leben sind, das ihnen noch bleibt. Aber »Warum sind wir dankbar, dass wir leben?«, fragte mich meine Freundin R., und ich stelle diese Frage hier zur kollektiven Betrachtung.
Krankheit der Anderen und Mutanten
»(…) so ist Krebs die Krankheit des Anderen. Krebs entwickelt sich anhand eines Science-Fiction Szenarios: eine Invasion von fremden oder mutanten Zellen, die stärker sind als normale Zellen (…). Krebs könnte als eine triumphale Mutation beschrieben werden, und Mutation ist heute hautsächlich ein Bild für Krebs.«
»Spontanmutation«, so wurde mein Tumor beschrieben. Der Krebs klopft wirklich nicht an, bevor er eintritt. Aber welche Krankheit tut das schon? Ist es wirklich eine Invasion? Was sind »normale Zellen«? »Mutant«, »fremdartig«, »invasiv« sind alles Begriffe von Normalisierungsregimen, die besonders für Krankheiten verwendet werden, die immer noch nicht vollständig erklärt oder verstanden oder als solche dargestellt werden. Der Krebs kann nur als eine Krankheit der Anderen betrachtet werden, weil Eine*r nie erwartet, dass etwas Tödliches aus dem eigenen Körper kommen kann. Schon wieder diese langweiligen Binaritäten in diesem kulturellen Kontext: Du kannst nur gesund sein, wenn das Außen ungesund ist. Das Andere, Außenstehende ist die Erkrankung, Krankheit: Du bist das Gegenteil. Was macht einen mutmaßlich gesunden Körper aus – abgesehen davon, eine physische Projektionsfläche der Normen und der sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Vorstellungen einer spezifischen Gesellschaft, Ortschaft und Zeit zu sein? Als solche(s) verändern sich alle ständig, was ihren vergänglichen Zustand offenbart: Kein Körper bleibt der Gleiche, kein »Gesundheits-« Status bleibt gleich (Danke, K.), kein Verständnis von dem, was »Gesundheit« eigentlich heißt, bleibt gleich, geschweige denn, dass es das Gleiche überall auf der Welt bedeuten würde.
Die wirtschaftliche Ausbeutung von Krankheiten und die besondere Gewinnträchtigkeit, die mit ihnen verbunden ist, sind Bestandteil der privatisierten Profit- und makabren Sinnerzeugungssysteme des Neoliberalismus. Der Krebs, wie jede andere Krankheit, sollte keine Ware bleiben und hätte nie eine werden dürfen. Als akkreditierte Kranke erlebst Du Normalisierungsregime noch kompromissloser, wenn Du ständig entlang der Kriterien von Grenzwerten gemessen wirst. Das Problem ist: All diese Messlatten werden nicht als kultur- und kontextabhängige Wahrheiten kommuniziert, sondern als absolute Wertesysteme. Manche medizinischen »Empfehlungen« entpuppen sich als Schönheitsnormen oder kosmetische Kriterien. Krankheit kann normalisieren, und das ist nie hilfreich. Aber, wenn Du vorher schon Normen in Frage gestellt hast, bist Du in bester Ausgangsposition für den Umgang mit Dir als Abtrünnige*r. Willkommen im Club…
Lösen
»Sind doch unsere Anschauungen über Krebs und die Metaphern, die wir ihm angehängt haben, in hohem Maße Vehikel für die großen Unzulänglichkeiten dieser Kultur, für unsere oberflächliche Haltung dem Tod gegenüber, für unsere Ängste gegenüber dem Gefühl, für unsere rücksichtslosen, leichtsinnigen Reaktionen auf unsere wirklichen Wachstumsprobleme, für unsere Unfähigkeit, eine fortgeschrittene Industriegesellschaft aufzubauen, die den Konsum in angemessener Weise reguliert, ein Vehikel auch für unsere berechtigte Furcht vor dem zunehmend gewalttätigen Verlauf der Geschichte. Die Krebsmetapher wird überholt sein, wage ich vorauszusagen, lange ehe die Probleme, die sie so beredt reflektiert hat, gelöst sein werden.«
Ja! Krankheit kann eine isolierende Erfahrung sein und stigmatisierende Metaphern tragen ihren Teil dazu bei, eine Atmosphäre des Nichtdazugehörens zu schaffen. Lasst Menschen mit einer schwierigen Diagnose nicht allein, es sei denn natürlich, sie wollen es. Du musst keine klugen Dinge sagen, sei einfach da, sei Begleitung, halte die Situation. Ja, Krankheit ist für eine Weile vielleicht das einzige Gesprächsthema. Vielleicht ist es für viele Beteiligte ermüdend. Aber vergesst bitte nicht: Es ist auch ermüdend, über alle Belange der Abled-Welt zu sprechen, als ob nichts gewesen wäre. Und erlaubt mir zu sagen: Ich denke, wir würden alle davon profitieren, wenn nicht diejenigen, die z.B. Ableism, Rassismus, Sexismus, LGBTIQA+ -Hass, Fat-Shaming, Klassismus und Antisemitismus erfahren, das ständig thematisieren müssten, damit diese strukturellen Ungerechtigkeiten überhaupt angesprochen werden, sondern wenn Andere die Sache(n) auch thematisieren würden. Das bedeutet für mich: Orte für kollektive Begegnungen zu schaffen, in denen Du Zeug*in bist, wie Menschen ihre Auseinandersetzungen, Anstrengungen, Wege teilen. Wo sich individuelle, für viele so isolierende Erfahrungen in eine kollektive Perspektive einbinden. In denen Du lernst, den Erfahrungen anderer aktiv und solidarisch zuzuhören, und in denen dadurch persönliche Geschichten von Verletzbarkeit, Ability, Aktivismus und Widerstand emporkommen und sich ermöglichen. Nice try.
Grenzgänge
»Krankheit ist die Nachtseite des Lebens, eine eher lästige Staatsbürgerschaft. Jeder, der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken. Und wenn wir alle es auch vorziehen, nur den guten Ruf zu benutzen, früher oder später ist doch jeder von uns gezwungen, wenigstens für eine Weile, sich als Bürger jenes anderen Ortes auszuweisen.«
Bisher funktionieren diese Staaten entlang sehr strikter Normen und Grenzen, was z.B. Gesundheit und Krankheit, Ability und Disability angeht. Sobald Du Dich jenseits dieser Normen verortest, wird Deine »Staatsangehörigkeit« infrage gestellt. Das enthüllt ihre Fragilität, ihre Unbeständigkeit, aber erschließt gleichzeitig Räume für Deine eigene Interpretation von angeblicher Ability und Gesundheit. Vielleicht wirst du ein*e Wander*in zwischen diesen Welten. Du wirst zur Grenzgänger*in: Deine Art zu heilen, Deine (vulner)abilities zu respektieren, Deine Ängste zu konfrontieren, als ein andauerndes Bewegen zwischen den Welten, wie Du sie kanntest, und der gleichzeitigen Erschaffung von neuen. Jenseits von Binäritäten. Jenseits dieser Regime des mutmaßlich Normalen und zugeschriebener Fähigkeiten. Jenseits der Ungeduld Deiner Umgebung, Dein altes Selbst auferstehen zu lassen. Manche sehnen sich danach, zu dem vorherigen »Normal«, der vorherigen »Normalität« zurückzukehren oder geben sich sehr viel Mühe, das zu rekonstruieren. Aber Vorher ist weg. Dahin kannst Du nicht zurück. Sei wohlwollend, wenn Du die Risse entdeckst, nachdem Du gerade neu tapeziert hast. Negative der Zeit: Sie erzählen Geschichten, bezeugen Krisen, zeichnen sie auf, bilden sie ab. Erlaube Dir, die verschiedenen »Dus« darin zu sehen. Eines Tages. Denn der Krebs bleibt ein Kaleidoskop der Komplexitäten. Abschnitte.
Übersetzung: Joanna Rowe, Überarbeitung: Nina Schulz
Susan Sonntag
1977 veröffentlichte die US-amerikanische Essayistin, Schriftstellerin und Regisseurin im New York Review of Books ihre dreiteilige Essay-Reihe, die später in das Buch »Illness as Metaphor« (Krankheit als Metapher) mündete. 1988 vertritt sie in ihrem Folgewerk »AIDS and Its Metaphors« die These, dass die ehemaligen Zuschreibungen an Krebs teilweise an AIDS übertragen wurden. Sie analysiert, welche Rolle Metaphern und der sprachliche Umgang mit tödlichen Krankheiten spielen. Anstatt diese Krankheiten weiter zu dämonisieren, demaskiert sie Zuschreibungen an sie und plädiert dafür, Krankheit anders in unser Leben zu integrieren. Susan Sontag starb am 28. Dezember 2004 an ihrer zweiten Krebserkrankung.
Krebs bleibt ein Kaleidoskop der Komplexitäten analyse&kritik 657 vom 18. Februar 2020