Sie sind auf dem Rathausmarkt. Auf den Landungsbrücken vor dem Museumsschiff Rickmer Rickmers. Auf der Reeperbahn vor dem populären Penny Markt und vor der Polizeistation Davidwache. 180 Zeichen weißer Sprühfarbe besetzen seit Anfang Mai den Asphalt der Hansestadt Hamburg.
1,50 mal einen Meter sind die Graffitis groß. An 33 Orten soll so die Komplexität des Alltags im Nationalsozialismus vermittelt werden. Das ist Ziel des Projekts Fußnote*. Zeitlicher Bezugspunkt ist der 8. Mai 1945, Tag des Kriegsendes.
„Uns geht es darum, noch nicht gekennzeichnete Orte in der Stadt zu markieren und die vielschichtigen Dimensionen der NS-Alltagsgeschichte zu vergegenwärtigen und sichtbar zu machen“, informiert Christiane Hess. Die Doktorandin der Geschichtswissenschaften ist eine von sieben Personen, die das Projekt Fußnote* ins Leben gerufen haben. „Wenn wir über die vielschichtigen Dimensionen von Täterschaft, Beteiligung, Widerstand, Gewalt und Ausgrenzung sprechen, geht es uns darum zu personalisieren und individuelle Geschichten zu erzählen“, erklärt die 33-Jährige. So schildert die Fußnote* vor dem Pennymarkt auf der Reeperbahn den Selbstmord des Antifaschisten Albert Bennies. Vor dem Lokal Alkazar wirft er sich vor einen Bus, um der Gestapo zu entgehen. An dem dort vermuteten geheimen Treff sollte er schwer gefoltert seine Genossen enttarnen.
Dreiecke
Das Projekt Fußnote* konzentriert sich dabei nicht nur auf Verfolgungsgeschichten sondern auf die Gleichzeitigkeit von Realitäten: der Heraufbeschwörung der Volksgemeinschaft ebenso wie der Situation von Zwangsarbeitern. So lassen die Fußnoten* Erinnerungsdreiecke wie das Folgende entstehen: In der Nähe des Schanzenviertels verweist eine Fußnote auf das Zwangsarbeiterlager in der Schilleroper an der Stresemannstraße, in dem von 1943 bis Anfang 1945 italienische Kriegsgefangene interniert waren. 650 Meter weiter südlich findet sich eine weitere Fußnote zum ehemaligen Freizeitheim der Hitlerjugend am Neuen Pferdemarkt. Die zeigt auf, dass zahlreiche Jugendliche bis zuletzt an die nationalsozialistische Ideologie glaubten. Zwei Minuten östlich davon berichtet eine weitere Fußnote über den ehemaligen Gefechtsturm an der Feldstraße. Den Bunker für 18.000 Menschen errichteten Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, die bei Fliegeralarm selbst nicht in den Bunker durften.
Wichtig ist den Initiatorinnen und Initiatoren, keine Leserichtungen in den Texten vorzugeben, um eigene Auseinandersetzungen mit der städtischen Gedenklandschaft anzuregen. Und Fragen aufzuwerfen: Was wussten die Menschen? Was war im Alltag sichtbar? „Gleichzeitig produziert das immer wieder Irritationen und Störungen“, so Hess.
Das Konzept, temporäre Zeichen im öffentlichen Raum zu setzen, stammt vom Projekt IN SITU aus Linz in Österreich. Dort wurden im Jahr 2009, 65 Orte des nationalsozialistischen Terrors in Linz markiert. Auch die Fußnoten konzentrieren sich auf das „Prinzip der leisen Wirksamkeit“. „Uns geht es darum, relativ leise Geschichten zu erzählen, die aber in ihrer Dichte und in ihrem Zusammenhang funktionieren“, sagt Andreas Ehresmann, ebenfalls einer der Initiatoren der Fußnoten*. Gleichzeitig betont der Architekt und Doktorand der Geschichtswissenschaft: „Das Temporäre ist uns wichtig. Gedenktafeln haben mehr von einem Denkmalcharakter und Denkmäler verschwinden aus der öffentlichen Wahrnehmung. Dieses Verschwinden wollten wir zum Prinzip erheben. Aber Graffitischablonen haben einen stärkeren Markierungscharakter.“ Außerdem sei es ein einfaches Medium und das ehrenamtliche Projekt trage sich so nahezu von selbst.
Präzedenzfall
Der Pauschalpreis pro Folie beträgt 80 Euro. Unterstützt wird das Projekt von Paten, wie dem linken Stadtteilzentrum Rote Flora, dem Club Übel&Gefährlich im Bunker an der Feldstraße, antifaschistischen und linken Gruppen aus Hamburg und Einzelpersonen. Für das Sprühen der Fußnoten* haben die Initiatorinnen und Initiatoren offizielle Genehmigungen der Hansestadt eingeholt. „Die Mitarbeiter in den Bezirksämtern haben sogar schon ihr Interesse bekundet, bevor sie den genauen Inhalt der Schablonen kannten“, sagt Christiane Hess. „Damit haben wir einen Präzedenzfall geschaffen. Auf diese städtische Legitimation können sich auch andere beziehen, die das Projekt in ihrer Stadt umsetzen wollen“, äußert Ehresmann. Wichtig ist den Initiatorinnen vor allem eins: „Mit dem Projekt Fußnote* möchten wir den Rahmen der Möglichkeiten aufzeigen, eine andere Form der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu wählen und die Wahrnehmung für ein Umfeld in der Stadt zu schärfen, die sich nicht nur auf historische Eckdaten bezieht“, merkt Christiane Hess an. Vielleicht sind in einem Jahr andere Orte markiert oder die gleichen Orte anders. Vielleicht finden sich aber auch bald 180 Zeichen auf dem Asphalt anderer deutscher Städte.
Text: Nina Schulz
Alle Fotos: Elisabeth Mena Urbitsch
Mehr Infos unter: www.fussnotemai45.de
Veröffentlichungen:
Artikel 180 weiße Zeichen auf grauem Asphalt, Jüdische Allgemeine, 12.05.2010