1997 ist in der Bundesrepublik rückwirkend das Ghetto-Rentengesetz in Kraft getreten. Es soll Opfern des Nationalsozialismus, die im Ghetto “aus eigenem Willensentschluss” und gegen “Entgelt” eine Beschäftigung ausgeübt haben, zu einer Wiedergutmachung verhelfen, weil sie im Ghetto keine Rentenansprüche erwerben konnten. Doch von schneller und unbürokratischer Hilfe, die den Holocaust-Opfern versprochen wurde, kann aufgrund der Ablehnungsquote der Anträge keine Rede sein. Eine rechtsstaatlich zweifelhafte Dimension erhielten die Begriffe “schnell und unbürokratisch” zudem in Nordrhein-Westfalen.
Überall stapeln sich Akten. Akribisch aufgetürmt erreichen sie jeweils einen halben Meter Höhe und bedecken Teile des großen Konferenztisches, einige Stühle und die Außenkanten des Teppichbodens. In ihrem Hellgrün wirken die Handakten wie eine nach Innen verschobene, für die Außenwelt verloren gegangene Jahreszeit, die hier für kurze Zeit einen Aufenthaltsort gefunden hat. Mehr als 2.000 dieser Exemplare befinden sich in Simona Reppenhagens Kanzlei. Die Berliner Anwältin ist eine kleine Frau mit wachem Blick und dunklem Haar, die so wirkt, als ob sie nur noch wenig erschüttern kann. Sie vertritt Überlebende des Holocaust, die einen Antrag auf eine Ghetto-Rente gestellt haben.
Reppenhagens Resümee zur Rolle der Behörden in den Ghetto-Rente Fällen ist ernüchternd. “Die Deutsche Rentenversicherung und viele Gerichte haben sich ignorant verhalten. Ignorant gegenüber der historischen Wahrheit und der materiellen Gerechtigkeit.” Sie problematisiert, es wären Urteile und Entscheidungen entgegen historischer Tatsachen geschrieben und der Auftrag zur Umsetzung des Gesetzes nicht wahrgenommen worden. Gleichzeitig sei den Klägern vermittelt worden, sie seien unglaubwürdig.
Ablehnungsquote
Tatsächlich hat kein Wiedergutmachungs-Gesetz in der Bundesrepublik eine so hohe Ablehnungsquote wie das Ghetto-Rentengesetz, das 2002 einstimmig vom Bundestag beschlossen wurde und rückwirkend zum 1. Juli 1997 in Kraft getreten ist. Dabei sollte das Gesetz mit dem sperrigen Namen “Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus der Beschäftigung in einem Ghetto” (ZRBG) schnell und unbürokratisch Defizite in der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts beheben. Und monatliche Rentenzahlungen von 50 bis 400 Euro ermöglichen. Anspruch auf eine Rente sollten diejenigen haben, die zwangsweise in einem Ghetto waren und dort eine Beschäftigung “aus eigenem Willensentschluss” und “gegen Entgelt ausgeübt” haben – im Gegensatz zur Zwangsarbeit. Trotz ihrer häufig sozialversicherungspflichtigen Tätigkeiten konnten sie im Ghetto keine Rentenansprüche erwerben. Bis Mitte September 2007 wurden jedoch 95 Prozent der insgesamt 70.000 Anträge abgelehnt.
Dabei gab es noch im Juni 2009 einen Hoffnungsschimmer. In verschiedenen Revisionsentscheidungen des Bundessozialgerichtes (BSG) wurde geregelt, dass die Begriffe, die für die Bewilligung einer Rente maßgeblich sind, künftig weiter ausgelegt werden sollten. Es handelte sich um die Formulierungen “Entgelt” und “aus eigenem Willensentschluss”. Das Signal war deutlich: Die Rentenversicherungsträger und Gerichte sollten ihre eng gefasste Auslegungspraxis überprüfen. Stattdessen kam es kurz nach den Gerichtsentscheidungen in Nordrhein-Westfalen zu einer zweifelhaften Zusammenkunft.
Zusammenkunft
Der damalige Vizepräsident des Landessozialgerichts NRW (LSG NRW), Martin Löns, traf sich mit der Geschäftsführung und fünf weiteren Mitarbeitern der Beklagten, der Deutschen Rentenversicherung Rheinland. Anwesend waren eine Richterin des Sozialgerichtes Düsseldorf und ein Vertreter der Aufsichtsbehörde NRW, dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Einem zuständigen Richter, Jan Robert von Renesse, war jedoch mitgeteilt worden, der Termin falle aus. Die Zusammenkunft fand in den Räumen der Rentenversicherung statt. Thema der Besprechung: der Umgang mit den Urteilen des Bundessozialgerichts zur Ghetto-Rente.
In dem Protokoll des Treffens, äußerte die DRV-Rheinland den Wunsch, “dass keine neuen Terminierungen seitens der Gerichte in den Fällen erfolgen, die von der Rechtssprechung des BSG betroffen sind. Wenn möglich sollen auch bereits terminierte Sachen aufgehoben und mit einem entsprechenden Hinweis zur Prüfung auf ein Anerkenntnis an die DRV gesandt werden”. Grundsätzlich würden die terminierten Sachen in der Bearbeitung vorgezogen. Die DRV-Rheinland bat also darum, nach dem Grundsatzurteil des BSG keine entsprechenden Urteile seitens der untergeordneten Gerichte ergehen zu lassen. Damit zusammenhängend sollten auch keine historischen Ermittlungen mehr stattfinden. Die DRV-Rheinland wolle im Gegenzug auch “einen großzügigen Prüfmaßstab ansetzen”. Nur, war darauf Verlass? Bisher hatte sich die Entscheidungspraxis ohne grundlegende historische Ermittlungen und persönliche Anhörungen der Überlebenden alles andere als kulant gestaltet.
Für die beklagte Deutsche Rentenversicherung Bund hätte eine lückenlose Umsetzung der Urteile weit reichende Folgen. Fachleute rechnen mit Kosten von zwei Milliarden Euro, wenn alle 70.000 Anträge bewilligt würden. War es also Zweck des ominösen Treffens, Gelder der Rentenversicherung zu sparen und die Gerichte zu entlasten? Die Anwälte der KlägerInnen waren jedenfalls nicht anwesend und wurden erst später über den Inhalt der Unterredung informiert. Dabei müssen die Klägervertreter einer Aussetzung von Verfahren grundsätzlich zustimmen.
Nadelöhr
Richter Löns sagt zu dem Treffen: “Inhaltlich sollte dort nichts besprochen werden. Es ging nur um das organisatorische Anliegen, schnelle Anerkenntnisse abzugeben, damit das Nadelöhr der deutschen Rentenversicherung nach den Entscheidungen des Bundessozialgerichts nicht verstopft wird.” Warum ein solches Treffen ohne Klägerbevollmächtigte und zuständige BerichterstatterInnen stattfindet? Der Sprecher des Justizministeriums NRW ist wenig auskunftsfreudig. VertreterInnen des Justizministeriums hätten nicht an einem Gespräch teilgenommen und “ein solches Gespräch auch nicht veranlasst” sagt Ulrich Hermanski am 16. Dezember 2010. Und empfiehlt, Kontakt mit der Präsidentin des LSG-NRW zu suchen.
Reppenhagen kommt das alles ungewöhnlich vor. Sie erhebt schwere Vorwürfe: “Die Besprechung lässt ein Zusammenwirken von Exekutive und Judikative erkennen, die der Gewaltenteilung offenkundig widerspricht. Und woher habe ich die Kontrolle über das, was dort tatsächlich geredet wurde?” Die Rechtsanwältin, die mehr als zwanzig Jahre Berufserfahrung hat, glaubt, “die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts ist durch diese sonderbare Zusammenkunft, über die nicht alle Verfahrensbeteiligten informiert wurden, in Frage gestellt”.
Bewilligungspraxis
Ein Blick in die Vergangenheit erhärtet Indizien, die die Bewilligungspraxis bei Ghetto-Renten in NRW fragwürdig erscheinen lassen. Stephan Lehnstaedt ist Mitarbeiter des Historischen Instituts in Warschau und in den Verfahren als historischer Gutachter tätig. Er hat mehr als 60 Urteile aus NRW analysiert und sagt: “Dort hatte sich bis Juni 2009 eine Praxis etabliert, in der Teile der Sozialgerichtsbarkeit routinemäßig die ablehnenden Bescheide der Rentenversicherung bestätigten, ohne sie zu überprüfen.” So hätten Justiz und Verwaltung jeweils auf die Ergebnisse des anderen verwiesen. Abweichende Auslegungen von Begriffen hätten fast automatisch zu einer Ablehnung von Klagen geführt.
Mitte Juni 2009 begann die DRV-Rheinland fast 26.000 abgelehnte Anträge neu zu überprüfen. Wieder verschickt die Behörde Fragebögen und fragt darin bereits Beantwortetes ab. Im Fragebogen heißt es: “Sie müssen keinen Antrag stellen.” Wenn es aber keine Rückmeldung der Betroffenen gab, wurden die Anträge zurückgestellt. Das traf in 2.900 Fällen zu. Die DRV-Rheinland kann darin nicht erkennen, “dass die Antragsteller durch das Anschreiben und die Kurzinformation irritiert worden sein könnten”.
Bereits die Version der Fragebögen, die bis zu den Urteilen des BSG 2009 galt und an die AntragstellerInnen verschickt wurde, sei “als Instrument zur Sachverhaltsaufklärung ungeeignet und erzeugte sogar falsche Angaben”, so die sachverständige Sozialwissenschaftlerin Kristin Platt vom Institut für Diaspora- und Genozidforschung der Ruhr-Universität Bochum.
Ermittlungsinstrumente
Auch andere Ermittlungsinstrumente wirken unangemessen. Als Entscheidungsgrundlage dienten Wikipedia und acht fachwissenschaftliche Bücher, davon vier Überblickswerke, sowie die Datenbank des Karl-Ernst-Osthaus-Museums. Hierbei handelt es sich um ein Kunstprojekt, das rund 400 osteuropäische Ghettos auflistet und seit 2001 nicht mehr fortgesetzt wird. Hingegen zählt das US Holocaust Memorial Museum zurzeit 1.150 Ghettos in Osteuropa. Auch das Angebot einer kostenlosen Amtshilfe durch die nationale israelische Versicherungsanstalt ließen die deutschen KollegInnen schlichtweg ruhen; genauso wie das Angebot der Jewish Claims Conference, ihre ExpertInnen zu Rate zu ziehen. “Zahlreiche einschlägige Studien zur Ghetto-Forschung blieben schlichtweg unberücksichtigt. So erklären sich zahllose Irrtümer, unzulässige Analogien und Pauschalisierungen bzw. Fehlinterpretationen”, kritisiert Lehnstaedt.
Das warf wiederum Fragen nach den Ermittlungen auf. 2006 fielen die Ghetto-Renten-Fälle aus Israel, für die NRW verantwortlich ist, am dortigen LSG in die Zuständigkeit von Jan Robert von Renesse. Der wollte sich nicht mehr allein auf Wikipedia und Fragebögen verlassen und begann zu ermitteln. Genauso wie seine KollegInnen vom Sozialgericht Hamburg. Von Renesse holte rund 500 Stellungnahmen zur Lebens- und Arbeitssituation in verschiedenen Ghettos ein, ließ in osteuropäischen Archiven und den Beständen von Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem, forschen und begann damit, Überlebende in Israel anzuhören. Seine Praxis stieß nicht nur auf Zustimmung. Obwohl das BSG bereits Ende 2006 klargestellt hatte: “Zur Feststellung dieser nicht allgemeinkundigen und damit beweisbedürftigen generellen Tatsache” wäre ein historisches Sachverständigengutachten einzuholen gewesen.
Ende 2008 jedoch verfügt Ulrich Freudenberg, der damalige Vorsitzende des 8. Senats am LSG NRW, von Renesses Beweisanordnungen aufzuheben, als dieser drei Tage krank ist. Das sollte auch für die Zeit nach von Renesses Rückkehr gelten, Freudenberg wollte zuerst über jede Beweisanordnung informiert werden. Ende März 2010 wurden von Renesse und Matthias Röhl, den einzigen Richtern am LSG, die KlägerInnen persönlich in Israel anhörten, die Zuständigkeit für die Ghetto-Rente-Verfahren entzogen. Kurz zuvor hatte von Renesse noch rund 30 Kostenbeschlüsse erlassen, in denen er die Kosten der Amtsermittlungen der DRV-Rheinland in Rechnung stellte. Im April 2010 wurden diese Kostenbeschlüsse wieder aufgehoben. Verantwortlich dafür: Richter Freudenberg. Begründung: die persönlichen Anhörungen und historischen Ermittlungen seien nicht geboten gewesen.
Realitätsbezug
Anwältin Reppenhagen beanstandet: “In Nordrhein-Westfalen ist das Landessozialgericht aus den Fugen geraten. Dieses Gericht hat vollkommen den Realitätsbezug verloren.” Im Juni erhob sie mehrere Verfassungsbeschwerden. “Die Aufhebung dieser Kostenbeschlüsse verletzt das Grundrecht auf einen gesetzlichen Richter, das Grundrecht auf ein rechtsstaatliches Verfahren und stellt außerdem eine Verletzung des Willkürverbots und der Menschenwürde dar.” Ihre Verfassungsbeschwerden wurden nicht zur Entscheidung angenommen.
Für die betagten KlägerInnen machen sich außer Reppenhagen auch andere Anwälte stark. Anfang 2010 erstattete der Berliner Rentenberater Wolfgang Johannsen Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Vizepräsident Löns, unter anderem wegen der Zusammenkunft mit der DRV-Rheinland. Dienstaufsichtsrechtliche Maßnahmen gegen den Richter wurden nicht ergriffen. Ein weiterer Anwalt von KlägerInnen hatte die Praxis des damaligen Vorsitzenden des 8. Senats, Richter Freudenberg, in einem Schriftsatz scharf kritisiert. Für den Anwalt stellte das Vorgehen “einen in der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik einmaligen Vorgang dar, der sich noch dazu im Kern gegen jüdische Verfolgte und ihre Menschenrechte auf ein faires Verfahren richtet”. Daraufhin erstattete Löns Strafanzeige. Der Rechtsanwalt erstattete dann seinerseits wiederum Strafanzeige gegen Löns und Freudenberg. Beide Verfahren sind schwebend.
Ende 2010 waren ein Viertel der mittlerweile 57.000 Anträge bewilligt. Dies soll 300 Mio. Euro 2010 und 200 Mio. Euro 2011 kosten. Für Simona Reppenhagen steht fest: “Die juristische Umsetzung der Verantwortung hat bisher versagt.”
Text: Nina Schulz
Foto: Elisabeth Mena Urbitsch
Veröffentlichungen:
Report Verhinderung von Amts wegen, analyse&kritik, no.558, S.28
Report Hinhaltetaktik bei Ghetto-Rentnern, die tageszeitung, 24.01.2011