“Fundamentale Menschenrechte sind die Grenze”

sihem-bensedrine1 Menschenrechte sind in Tunesien zwar in der Verfassung garantiert, aber im Alltag regieren Angst, Verfolgung und Unterdrückung. Das erfuhr auch die tunesische Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Sihem Bensedrine: Sie war bereits mehrmals inhaftiert, für sechs Jahre wurde ihr Pass eingezogen, sie wurde verfolgt und tätlich angegriffen. Von 2002 bis 2005 war sie Gast der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte. Heute ist Bensedrine Stipendiatin des PEN Zentrums in Hamburg.

Als Chefredakteurin der in Tunesien verbotenen Online-Zeitung Kalima (Das Wort) äußert Bensedrine weiterhin unbequem ihre Kritik: sowohl an der tunesischen Regierung als auch an der internationalen Politik gegenüber den sogenannten Maghrebländern.

Nach dem 11. September 2001 schlug die Stimmung um. Autoritäre Modelle gerieten plötzlich wieder in Mode, dank der unerhofften Unterstützung, die sie von westlichen Demokratien erhielten – im Namen der Sicherheit und des Kampfes gegen den Terrorismus. Diese These vertreten Sie und Omar Mestiri in Ihrem neuen Buch “Despoten vor Europas Haustür”.
Der 11/9 stellt einen Wendepunkt dar: in unserem Leben und in der politischen Geschichte Tunesiens. Vor dem 11/9 hat Ben Ali 1 versucht seine Diktatur in ein demokratisches Gewand zu kleiden. Nach dem 11/9 hat er eine neue Flagge gehisst und die internationalen Entwicklungen als Legitimation für autoritäre Politiken genutzt. Tunesien liefert das Modell einer Diktatur mit demokratischer Fassade. Weltweit haben sich alle autoritären Regime im globalen Kampf gegen den Terrorismus engagiert und die internationalen Instrumentarien ratifiziert. Und erhielten so einen Freifahrtsschein, um Menschenrechte zu verletzen.

Aber der politische Islam selbst wird nicht skandalisiert. Ganz im Gegenteil. Sie schreiben, dass westliche Regierungen mit Machtinhabern, die sich auf den Islam berufen, oftmals gute Beziehungen unterhalten.
Die Europäer haben kein Problem damit, gute Beziehungen mit Diktatoren, mit islamischen Diktatoren, mit extrem konservativen und archaischen Regime wie in Saudi-Arabien zu unterhalten. Aber wenn islamische Bewegungen diese Politiken anfechten, wird es ein Problem. Die aktuelle Tendenz islamischer Gruppierungen in der Welt stellt eine große Herausforderung dar: Sie unterbreiten ihr Modell und ihre Anschauung des Islam als einzig richtige und gute. Jede andere Interpretation ist für sie falsch. Aber diese Tendenz ist nicht repräsentativ.

Auf der anderen Seite werden Anhänger des Islams weltweit als der Feind Nummer eins präsentiert. Gegen diese Zuschreibung entwickeln sie eigene Verteidigungsmechanismen. Die wichtigste Frage, die wir uns stellen müssen ist: Warum akzeptieren junge Männer und mehr und mehr Frauen diese Theorie und Bewegung? Es ist eine internationale Bewegung, die im Okzident weiter verbreitet ist als in den Herkunftsländern. Für dieses Phänomen tragen Regierungen eine Verantwortung. Ihre Politiken nähren Extremisten und rufen genau das Gegenteil von dem hervor, für das sie umgesetzt wurden.

Die tunesische Definition von Terrorismus bezieht sich auch auf Personen, „die Terroristen helfen“. Eine Definition, die sich hauptsächlich gegen Menschenrechtsaktivisten richtet, die im Ausland leben und Ben Alis Politik kritisieren. Auch Ihr Name wurde erwähnt, als Otto Schily und sein tunesischer Amtskollege im März 2003 eine Vereinbarung zur Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen unterzeichneten.
Es existiert eine allgemeine Sicherheitsbesessenheit. Dadurch wird ein überlebensgroßes Feindbild konstruiert. Aus dem Grund kooperierte Schily mit autoritären Regimen, obwohl er sich als Sozialdemokrat bezeichnet. Aber diese Werte haben sich offensichtlich in Luft aufgelöst. Sein Hauptanliegen war einzig und allein die Sicherheit. Meine Regierung kategorisiert mich als Freundin von Terroristen. Sie verweigern mir Zugang zu Räumen und mobilisieren ihr eigenes Netzwerk an Unterstützern im Ausland, um mich einzuschränken. Das gelingt ihnen nicht immer, weil ich nicht mit Regierungen sondern mit NGOs und unabhängigen Gruppen zusammen arbeite.

Die Pressefreiheit in Tunesien wird von Reporter ohne Grenzen auf Rang 148 von 167 platziert.
Für die Pressefreiheit ist es aktuell die schlechteste Situation unserer Geschichte. Pressefreiheit existierte sogar zu Zeiten des Kolonialismus. Probleme mit Autoritäten, Zensur und der Meinungsfreiheit kamen vor, aber es gab einen Bereich, in dem wir uns frei ausdrücken konnten. Nach der Unabhängigkeit reduzierte Bourguiba 2 diesen Bereich, aber nach einem Jahrzehnt verbesserte sich die Situation. In den 1980er Jahren existierten mindestens drei bis vier unabhängige Zeitungen, ich arbeitete als Journalistin für eine von ihnen. Als eine Körperschaft unabhängiger Journalisten gelang es uns, den Allgemeinen Journalistenverband ins Leben zu rufen. Zwei Jahre nachdem Ben-Ali während des ersten Golfkrieges an die Macht kam, schloss er unabhängige und private Zeitungen. Heute gibt es mindestens 200 Zeitungen in Tunesien, aber sie sind alle gleichgeschaltet. Einige sind privat, einige staatlich. Aber die privaten gehören de facto dem Staat. Das Innenministerium finanziert die Zeitungen. Die Etiketten unabhängig und privat sind nur eine Fassade.

Tunesien bezeichnet sich als Experte für Internetzensur. Sein Zensurmodell wird mittlerweile in Länder wie Syrien oder den Yemen exportiert.
Das Know-How und die Software für die professionelle Zensur ist in Zusammenarbeit mit US-amerikanischen und chinesischen Firmen entwickelt worden. Gleichzeitig hindert eine eigens eingerichtete Überwachungsinstitution mit Polizeiinformationen und Kontrolleuren Personen daran, etwas Verbotenes zu nutzen. Sie kontrolliert täglich alle E-Mails, die in Tunesien empfangen werden, auch die von Regierungsbeamten, Entscheidungsträgern und ausländischen Botschaftsangehörigen. Sie erstellt, aktualisiert und kontrolliert, schwarze und weiße Listen der Internetseiten, die blockiert werden sollen. Dazu gehören alle oppositionellen und ausländischen Seiten, auf denen Tunesien kritisiert wird, wie die bestimmter Zeitungen, die von NGOs wie Reporter ohne Grenzen und Amnesty International und die IFEX Seite.

Nach tunesischer Gesetzgebung, muss man sich für eine Lizenz bewerben, um eine Zeitung herauszugeben. Seit 1999 haben Sie es vier Mal versucht. Jeder Versuch scheiterte. Seit 2000 geben Sie die unabhängige und freie Online-Zeitung Kalima (Das Wort) heraus, die in Tunesien verboten ist. Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Medium im Exil gemacht?
Alle Journalisten aus Tunesien senden ihre Geschichten per E-Mail. Aber wir müssen unsere E-Mail Adressen häufig ändern, weil sie kontrolliert werden. Dank meines Aufenthalts in Hamburg, kann ich die Geschichten von hier aus online stellen. In Tunesien gestaltet sich die Situation anders. Dort wird die Telefonleitung für die Kontrolle des Internets genutzt. Meine Telefonleitung funktioniert zwar, aber der Internetzugang ist gekappt. Ein Internetzugang via Satellit ist illegal. Wenn ich ein Internetcafé besuche, sind meine E-Mail Adressen nach zehn Minuten blockiert. Die Zensur entscheidet, was ich lesen kann und was nicht. Es ist ein totalitäres System. Wenn ich in Tunesien bin, postieren sich täglich Polizisten ganz offen vor meinem Haus. Wenn ihnen bestimmte Besucher nicht passen, verhaften sie sie einfach. Die Leute haben Angst und wir können dort kein normales Leben führen. Das ist soziale Quarantäne.

Die tunesische Regierung hat die ATC (Tunesische Agentur für die Kommunikation mit dem Ausland) gegründet, eine Propagandaagentur für das Image Tunesiens. Wie erfolgreich ist die ATC?
Sie laden Journalisten, Entscheidungsträger und Reiseveranstalter nach Tunesien ein. Im August 2004 verkündete das Tourismusministerium: Jüngst wären 18.000 europäische Journalisten eingeladen worden und hätten dazu beigetragen, das Image Tunesiens zu verbessern. 54 Millionen Euro habe man dafür aufgewandt. Die ATC gibt viel Geld im Ausland aus. In jeder größeren Botschaft befindet sich ein Vertreter der ATC. Sie organisieren Partys, Empfänge und bezahlen Schreiberlinge, um apologetische Artikel zu verfassen. Sie besuchen jede Veranstaltung von politischen Oppositionellen oder schicken ihren Botschafter, um Dir zu widersprechen und Kritiker zu diskreditieren. Aber diese Maßnahmen reichen nicht aus, um ein positives Image aufrecht zu erhalten.

Während des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (WSIS), der im November 2005 in Tunesien stattfand, haben Sie versucht einen Gegengipfel zu organisieren.
Wir konnten ihn nicht abhalten, weil es keinen Austragungsort gab. Die Hotels durften uns keine Räume zur Verfügung stellen. Bei unserer Pressekonferenz im Goethe Institut in Tunis, hat die Polizei das Gebäude umstellt und den Zutritt verboten. Bis dahin fiel es einigen Menschen schwer, unseren Darstellungen von der Situation in Tunesien zu trauen. Sie sahen nur eine offene Gesellschaft, schöne Strände, das Meer und den Sonnenschein. Touristen haben keine Probleme. Aber das ist eine Fassade. Sobald man sich in die Herrschaftsstrukturen begibt, offenbart sich das autoritäre Regime. Als der Schweizer Präsident in seiner Rede die tunesische Politik kritisierte, wurde die Übertragung unterbrochen. Nach dem WSIS entdeckten Menschen die tunesische Realität.

Im Vergleich zu anderen arabischen Staaten, genießen Frauen in Tunesien einige Rechte. Frauen und Männer können einen Scheidungsantrag stellen. Kinder tunesischer Frauen erhalten automatisch die tunesische Staatsbürgerschaft. 1992 haben Sie die Frauenagenda herausgegeben mit Adressen feministischer Verbände in der Maghrebregion, die vom Innenministerium konfisziert wurde. Ist die Situation doch nicht so rosig?
Als Frauen genießen wir Rechte. Unsere Situation ist wirklich eine Ausnahmesituation in der muslimischen Welt. Darauf sind wir stolz. Aber diese Rechte hat nicht Ben-Ali etabliert. Diese Rechte existieren seit der Unabhängigkeit des Landes 1956. Bourguiba war ein modernes Staatsoberhaupt. Er hat das Familienrecht festgeschrieben und wir haben zum ersten Mal eine relative Gleichberechtigung erreicht. Ben-Ali hat das Staatsbürgerschaftsrecht und die Gleichheit im Sorgerecht umgesetzt. Das Problem mit Ben-Ali ist, dass er der einzige Kämpfer für Frauenrechte sein will. Als Frauen haben wir nur das Recht, unsere Rechte in einem Rahmen aufzuhängen, aber nicht, sie zu nutzen. Ben-Ali konfisziert unsere Staatsbürgerschaft als Frau. Wenn Du eine Oppositionelle bist, wird es für Dich wirklich gefährlich, weil Ben-Ali nur Männer als Oppositionelle akzeptiert. Er instrumentalisiert die Rechte von Frauen als eine Art Legitimation seiner Diktatur und nutzt sie als Demokratisierungslabel: „Seht her, ich habe die Rechte von Frauen umgesetzt. Deswegen bin ich demokratisch.“ Aber wir kämpfen weiter.

„Eure Rolle ist mit dem Einsturz der Zwillingstürme am 11. September kollabiert“ sagte ein führender Sicherheitsbeamter der USA 2001 zu Amnesty International. Lässt sich das Zitat auf die Situation von NGOs in der Maghreb Region übertragen?
Das ist die Wahrheit, aber ein wenig exzessiv ausgedrückt. Unsere Rolle ist nicht kollabiert. Aber als Verteidigende der Menschenrechte stehen wir weltweit einem großen Problem gegenüber. Die Rolle der Kriegsanwälte ist proportional gewachsen. Die Werte der Menschenrechte sind nicht mehr Referenzpunkt für diejenigen, die in demokratischen Ländern mit der Gesetzesverantwortung betraut sind. In dem Sinne sind wir wirklich gescheitert. Aber seit zwei Jahren werden mehr Stimmen für Menschenrechte und demokratische Werte laut. Die Anprangerung von Guantanámo oder Abu Ghraib und die Spaltung des neo-konservativen Lagers in den USA sind große Erfolge, die auf das Konto von Menschenrechtsaktivisten gehen. Sie sind das Ergebnis eines andauernden Kampfes von all diesen Menschen weltweit, die es wagen dem dominanten Diskurs von „Im Kampf gegen den Terrorismus ist alles erlaubt. Es gibt keine Grenzen“ zu widersprechen. Sie sagen „Es gibt eine Grenze. Die Grenze sind fundamentale Menschenrechte.“

Interview und Übersetzung aus dem Englischen: Nina Schulz
Fotos: Elisabeth Mena Urbitsch

Anmerkungen:
1 Zine el-Abidine Ben Ali (RCD) ist seit 1987 das Staatsoberhaupt Tunesiens. Zuletzt gewählt wurde er 2004 und strebt nun eine fünfte Amtszeit an.
2 Habib Ben Ali Bourguiba war der erste Präsident Tunesiens und regierte von 1957 bis 1987.

Mehr Infos unter: www.kalimatunisie.com

Veröffentlichungen:

Interview Fundamentale Menschenrecht sind die Grenze, analyse&kritik, 15.12.2006, S.3


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